Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wehrlos: Thriller

Wehrlos: Thriller

Titel: Wehrlos: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
Vom Netzwerk:
Nächte unerträglich machte. Auch wenn Samuel die Fenster weit öffnete, um die Brise und den Verkehrslärm von der Ø sterbrogade hereinzulassen, hatte er doch das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen. Ihm war immer zu warm. Andererseits zog er die Sonne und die gebräunten Beine der Mädchen auf ihren Fahrrädern Regen, Wind, Kälte und den grauen Mänteln in diesem Land vor.
    Zum x-ten Mal sagte er sich, dass er diese Stadt wirklich nicht mehr ertragen konnte – und manchmal auch das ganze Leben nicht mehr. Hinter ihm an der Wand waren mehrere Umzugskartons aufgestapelt, die seit zwei Jahren darauf warteten, geöffnet zu werden. Daneben standen zwei Reisetaschen, Langlaufski, ein Surfbrett, Laufschuhe und eine Ausrüstung zum Paragliding. Der Reisende und Sportler befand sich vorübergehend und ungewollt im Ruhestand.
    Samuel richtete sich auf, in dem Bus tat sich etwas. Der Expolizist in Manila wurde nervös.
    Er hatte kürzlich den Artikel eines Kollegen gelesen, der unter Bezugnahme auf wissenschaftliche Untersuchungen darlegte, dass Dänemark das Land sei, in dem man am glücklichsten lebte. Auf die Frage »Mit welcher Note bewerten Sie Ihren Zufriedenheitsfaktor?« lagen die Dänen mit acht Komma fünf von zehn Punkten ganz an der Spitze, während Simbabwe mit drei Punkten das Schlusslicht bildete – für Frankreich hatte es sechs Komma fünf Punkte gegeben.
    Acht Komma fünf Punkte? Also wirklich, auf ihn traf das nicht zu. Nachdem er mit seinen fünfunddreißig Jahren hundert Leben in einem gelebt und Tausende von Themen auf der ganzen Welt behandelt hatte, fühlte er sich hier wie lebendig begraben.
    Zum hundertsten Mal sagte sich Samuel, dass er von hier verschwinden müsste, wenn er wieder das Gefühl haben wollte, zu etwas nutze und Augen und Ohren der Welt zu sein, wenn er seine Muskeln und das Pulsieren des Blutes in seinen Adern wieder spüren – kurz, wenn er einfach wieder leben wollte. Aber da waren Sarah und Melissa, seine beiden Prinzessinnen im Alter von sechs und acht Jahren, die einige Straßen entfernt bei ihrer Mutter wohnten. Um die Konflikte mit seiner damaligen Frau Pia zu beenden, hatten sie vor drei Jahren, als diese einen einflussreichen Posten an der hiesigen Universität bekommen hatte, Südafrika verlassen und waren in die langweilige Stadt im Norden Europas emigriert. Pia, die in Dänemark geboren war, wollte gerne zurück in ihre Heimat. Sie ertrug weder das Klima noch das Leben hinter den Sicherheitsbarrieren in der Vorstadt von »Joburg«, das die Ausländer führen mussten. Samuel hatte schließlich nachgegeben und bei der AFP um seine Versetzung gebeten. Sein Gesuch war angenommen worden. Dann hatte die klassische Talfahrt jener Paare begonnen, die nicht wirklich zusammenpassen. Die Illusion eines Neuanfangs, ein Liebhaber, eine Geliebte, Streit, Vorwürfe, Tränen, Trennung. Jetzt hinderte ihn nur die Tatsache, dass seine Töchter jedes zweite Wochenende bei ihm verbrachten, daran, wieder um einen Posten in Afrika zu bitten.
    Das Geschehen auf dem großen Plasmabildschirm erregte seine Aufmerksamkeit. Der Befehl zum Angriff war gegeben worden, die Ordnungskräfte hatten den Geiselnehmer erschossen, neun Fahrgäste waren bei der Aktion ums Leben gekommen.
    Samuel hörte sich die Kommentare an und betrachtete noch eine Weile die Schlussszene, die in einer Endlosschleife wiederholt wurde, dann schaltete er auf den Klassikkanal um. Dort wurde eine Othello -Aufführung von den Salzburger Festspielen 2008 mit dem jungen Aleksandrs Antonenko in der Titelrolle gezeigt. Am Ende des ersten Aktes fand der Tenor seine geliebte Desdemona wieder. Samuel stellte den Ton lauter, und im Zimmer ertönte eines der schönsten Liebesduette, die Verdi je komponiert hatte. Già nella notte densa . Unter dem Sternenhimmel vereinten die Liebenden ihre leidenschaftlichen Stimmen, um ihr Glück zu besingen, ehe Drama und Verrat Einzug hielten.
    Samuel schaltete den Fernseher aus und erhob sich vom Sofa, einem Secondhandstück, wie im Übrigen das gesamte Mobiliar in seiner Wohnung, der es an Harmonie und einheitlichem Stil mangelte. Das einzig Wertvolle waren seine Stereoanlage von Bang & Olufsen sowie seine Sammlung außergewöhnlicher CD s und alter Waffen.
    Samuel ging in sein Schlafzimmer – der kleinste Raum in der ganzen Wohnung, der ihm gleichzeitig auch als Arbeitszimmer diente – und ließ sich aufs Bett fallen. Den größten Raum hatte er für die beiden Mädchen eingerichtet: ein mit

Weitere Kostenlose Bücher