Wehrlos: Thriller
Schule, entzückt bei der Vorstellung, einen weiteren Abend mit ihrem Daddy zu verbringen. Sie waren sehr stolz auf die Leichtigkeit, mit der sie Englisch, Dänisch und Französisch sprachen. Als Samuel ihnen am Vorabend Gute Nacht gesagt und ihnen vorher unter Einsatz seines ganzen schauspielerischen Talents eine Geschichte vorgelesen hatte, war ihm klar gewesen, warum er in Kopenhagen blieb. Beim Aufstehen am Morgen konnte er einen weiteren Grund hinzufügen: Er hatte von Rachel geträumt. Ein sinnlicher, eindringlicher Traum, der ein deutliches Gefühl der Erfülltheit in ihm hinterlassen hatte. Bei dieser Erinnerung lächelte Samuel, dann aber verfinsterte sich seine Miene. Der einzige Schatten in diesem Bild – das Thema Aufrichtigkeit. Der Reporter war in einem Punkt, den sie ihm sehr übel nehmen könnte, nicht ganz ehrlich gewesen. Er hätte ihr wohl die Wahrheit sagen sollen an jenem Abend nach dem Fest der Nichtregierungsorganisationen oder als sie hier zusammengearbeitet hatten und einander nähergekommen waren. Doch ihn hatte der Mut verlassen aus Angst, sie zu enttäuschen. Eine Last, von der er sich später befreien würde. Später …
Samuel öffnete im Geist ein kleines Kästchen, steckte Rachel und alle Fragen, die sie betrafen, hinein und schloss es wieder. Er konzentrierte sich jetzt auf das Einzige, was in diesem Moment Bedeutung hatte: den Artikel, der ihn auf der Karriereleiter steil nach oben katapultieren würde. Einen Augenblick lang träumte er von der Möglichkeit, dass eine große Tageszeitung Kontakt mit ihm aufnehmen und ihm ein Angebot machen könnte. Er hatte einen Tag Zeit, um den Bericht des Jahrhunderts zu verfassen. Nach seiner sensationellen Berichterstattung über das Attentat vertraute man ihm inzwischen an oberster Stelle. Um neun Uhr deponierte er rechts und links von seinem Computer sein Smartphone, auf »leise« gestellt, da er nur dringende Anrufe annehmen würde, das Moleskine-Notizbuch mit all seinen Aufzeichnungen und sein Diktiergerät. Das Rohmaterial lag bereit: Ellens Enthüllungen aus der Steuerbehörde, welche die vertraulichen Mitteilungen des Kommissars von den Färöer-Inseln bestätigten, das Interview mit dem Finanzdirektor von Ice Fish Export, das Gespräch mit Margareth Jensen sowie die Kopie der gefälschten Finanztransaktion ihres Neffen und das Plädoyer des Staranwalts von William and Fenton, der von Reed bezahlt wurde, um Polsen zu verteidigen – eine echte Bombe. Mithilfe dieses Materials würde er nun mehrere Kurzartikel mit neunhundert Wörtern schreiben, die er ab dreiundzwanzig Uhr zum Abruf auf den Server der AFP stellen würde. Sich kurz zu fassen war die schwierigste Übung in seinem Beruf. Vor allem bei der Fülle an Informationen, über die er verfügte. Er musste auswählen, Prioritäten setzen und einiges opfern. So würde er die Rolle von Richard Reed, dem heimlichen Informanten von Green Growth, der gegen die Machenschaften seines Vaters agierte, zunächst beiseitelassen.
Gleich bei seiner Rückkehr an den Schreibtisch hatte von Lommel versucht, die Info zu überprüfen, und mit seinem Netzwerk alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Privatnummer der Reeds in Atlanta zu bekommen. Um ein Uhr morgens lag sie auf seinem Schreibtisch. Seine Versuche, im Privathaus des Chefs anzurufen, waren gescheitert. Er hatte nur eine Hausangestellte gesprochen, die ihm mit stark spanisch gefärbtem Akzent mehrfach gesagt hatte: »Mister Richard kann nicht mit Ihnen sprechen.« Er hatte viermal angerufen und jedes Mal dieselbe Antwort erhalten. Unmöglich herauszufinden, ob Richard Reed abwesend oder einfach nicht zu sprechen war. Und so verfügte Samuel über keine Fakten, um diesen Teil der Geschichte zu belegen. Kein Problem, darum würde er sich später kümmern. Er machte sich eine Thermoskanne Kaffee und nahm auf seinem Stuhl Platz, in dem Wissen, dass er sich von diesem erst gegen achtzehn Uhr wieder erheben würde, um seine Töchter vom Musikunterricht abzuholen. Mit einer Pizza vor den DVD -Player gesetzt, würden sie ihm anschließend Zeit geben, bis zwanzig Uhr weiterzuarbeiten. Er würde sie ins Bett bringen, seinen Text Korrektur lesen, Rachel anrufen, um sie auf dem Laufenden zu halten, und den Artikel gegen Mitternacht dänischer Zeit auf den AFP -Server stellen: Reed Industries in das Attentat auf den Färöer-Inseln verwickelt .
Am nächsten Morgen würde Green Growth seinerseits den Bericht veröffentlichen, der bewies, dass Reed
Weitere Kostenlose Bücher