Wehrlos: Thriller
Das Problem ist, dass ich zweifle, und das soll nie wieder vorkommen. Magda hat mir gesagt, der Glaube verwandelt den Geist, stärkt die Abwehrkräfte. Ich darf nicht schwach werden . Auf dem Tischchen hatte sie allerhand Firlefanz und Bilderrahmen arrangiert, die sie häufig abstaubte. Zwei Fotos von Niels waren darauf zu sehen, die ihn im Schnee vor dem Haus zeigten. Das eine war eine Großaufnahme, auf der der Seemann im roten Anorak ins Objektiv lächelte. Das andere war ein Porträt, das unzweifelhaft bewies, dass Sacha sein Sohn war, so erstaunlich war die Ähnlichkeit. Christa war der Meinung, der Junge sollte ein Foto seines Vaters haben, egal, was diesem vorzuwerfen war.
Hinter Niels hatte Christa ein Bild von Lars, ihrem Mann, aufgestellt, gekleidet in die offizielle Kapitänsuniform. Dort standen jedoch auch ein Druck der Jungfrau Maria, zwei Bilder von Johannes Paul II . und ein zwanzig Zentimeter großes Kreuz mit einem milde blickenden Christus. Sie bekreuzigte sich. Ich muss das, was Magdalone mir geraten hat, zu Ende führen. Wenn es bei ihr funktioniert hat, wird es auch bei uns funktionieren. Ich muss aufhören, mich infrage zu stellen. Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen, aber ich bin dabei, ihn wiedergutzumachen . Mein Gott, gib mir die Kraft, den Zweifel zu vertreiben. Die Großmutter verließ das Zimmer im ersten Stock und ging die ächzenden Stufen der schmalen Holztreppe hinunter in die kleine Küche im Erdgeschoss. Die Tür des modernen Kühlschranks gab beim Öffnen ein schmatzendes Geräusch von sich. Das Päckchen, das Magda ihr anvertraut hatte, lag, in ein weißes Tuch gewickelt, im oberen Fach.
■ ■ ■
Rachel fuhr schnell über die Promenade am künstlich angelegten See, begegnete Kinderwagen und Joggern. Jeder Tritt in die Pedale gab ihr neuen Mut, und der Wind, der ihren Rock bauschte, verschaffte ihr ein erfrischendes Gefühl von Freiheit. Ein Geschäftsmann, ein attraktiver Bursche – Handy am Ohr und mitten in einem Gespräch –, zwinkerte ihr zu. Rachel schenkte ihm ein kesses Lächeln. Die Blumen dufteten herrlich, und die Leute wirkten glücklich. Alles würde gut werden. Karl würde gesund werden. Die Mörder von den Färöer-Inseln würden festgenommen und Reed vor den Augen der ganzen Welt bloßgestellt werden. Sie und Samuel würden eine freundschaftliche Beziehung unterhalten, und Sacha, ihr Sacha, würde vielleicht gehen können …
Sie verließ den Park und fuhr über die Brücke in den Stadtteil Christianshavn. Sie liebte es, mit ihrem Mountainbike dieses Viertel zu durchqueren. Dieser Ort erinnerte an Venedig, Wasser und Boote an jeder Straßenecke, gepflasterte Gässchen, Uferstraßen, gesäumt von niedrigen Häusern, zwanglosen Restaurants und Cafés.
Sie bog in eine Einbahnstraße ein und erreichte den Hauptkanal von Christianshavn. Rachel radelte an den bunten Häuschen vorbei bis zum Roten Haus. Wie üblich spielte Sergio, auf grünen Plastikkisten sitzend, Akkordeon, eine silberne Pauke zu seinen Füßen. Heute Morgen war der Akkordeonist mit dem buschigen Bart fröhlich, er spielte eine Art Musettewalzer, neu interpretiert nach Zigeunerart. Sie stellte ihr Rad in der Nähe ab und begrüßte ihn freundschaftlich. Ein Blick auf ihr Handy bestätigte, dass sie keine Antwort auf ihre beiden SMS erhalten hatte. Christas Schweigen beunruhigte sie noch nicht, aber zu lange sollte es nicht mehr dauern.
■ ■ ■
Seit nunmehr mindestens vierzig Minuten stand Christa regungslos, das weiße Bündel im Arm, vor dem bunt zusammengewürfelten Altar, der im Lauf der letzten Wochen entstanden war. Sie hatte sich dazu entschlossen, das Paket, das ihre Nachbarin und neue Freundin Magdalone ihr anvertraut hatte, aus dem Gefrierfach zu nehmen. Christa hatte das in ein Tuch gewickelte Bündel an sich gedrückt und in das kleine Zimmer von Sacha getragen, wie Magda es ihr empfohlen hatte. Nun stand sie da, linkisch und unentschlossen.
Die Weihrauchspiralen stiegen bis zur Zimmerdecke. Mit unsicheren Händen wickelte die Großmutter das Tuch, das den kleinen Körper umhüllte, auseinander, als handele es sich um eine Mumie. Anfangs fiel es ihr schwer hinzusehen, dann gewöhnte sie sich an den schauerlichen Anblick des getrockneten Fötus.
Sie legte ihn auf das Tischchen vor die Fotos von Niels, Sacha und Lars, die Porträts der Jungfrau Maria und des verstorbenen Papstes, an den sie ihre Gebete richtete. Nachdem sich das erste Gefühl des Abscheus gelegt
Weitere Kostenlose Bücher