Wehrlos: Thriller
Obwohl Rachel nicht gläubig war, öffnete sie die schwere Tür und zahlte zwanzig Kronen. Einige Touristen bewunderten den Altar aus Marmor und Holz sowie die von zwei Elefanten getragene Orgel aus dem 17 . Jahrhundert. Ein Pastor im schwarzen Talar und mit weißem Beffchen unterhielt sich mit ihnen. Rachel schenkte ihnen keine Beachtung, sondern erklomm sofort die Wendeltreppe des Glockenturms. Vierhundert Stufen, die nach oben hin immer schmaler wurden.
Die ersten hundert Stufen legte sie ohne allzu große Mühe zurück. Vergessen waren die schmerzenden Muskeln, die Turnschuhe federten auf dem von Tausenden von Schritten polierten Holz. Die nächsten hundert waren schwieriger. Ihr Körper rebellierte, die von dem Unfall schmerzenden Glieder flehten um Gnade, doch das war genau das Gefühl, das sie suchte. Sie machte eine Pause, zog ihre Jacke aus und band sie sich um die Taille. Dann ließ sie drei keuchende Touristen mit roten Gesichtern vorbei, die wieder herunterstiegen, und machte sich, die Hand auf dem verzierten Geländer aus vergoldetem Eisen, an die nächsten zweihundert Stufen. Ihr Herz hatte sich an die Anstrengung gewöhnt und pumpte bei jedem Schritt frisches Blut in ihre Arterien und in ihr Gehirn. Ihr Geist wurde klarer. Auf den letzten fünfzig Stufen keuchte sie und spürte Stiche in der linken Seite.
Oben angekommen, trat sie hinaus auf die Plattform und stützte sich auf das Geländer. Außer ihr war niemand da. Der Wind peitschte ihr Gesicht und bauschte ihren Rock. Und wie jedes Mal, wenn sie hierherkam, war sie überwältigt. Der Blick auf Kopenhagen war atemberaubend. Die Stadt wirkte wie das Bild eines Künstlers, der unverfälschte Primärfarben direkt aus der Tube benutzt hatte. Unter sich sah sie die an einem Netz von blauen Kanälen aufgereihten Puppenhäuser in Gelb und Rot. Das Gewirr von Straßen, die in Fluchtlinien zum Hafen führten, wo ein weißer Luxusdampfer im Begriff war abzulegen. Etwas näher alte Lagerschuppen, ebenfalls in leuchtendem Rot und Gelb, militärisch nebeneinanderstehend wie bunte Dominosteine. Und überall grüne Tupfen: Bäume, Büsche, grüne Inseln. Wie sie diesen Blick über die Stadt liebte, der einen Eindruck von Freiheit und Natur vermittelte!
Wenn sie nachdenken wollte, kam sie oft hierher, um im wahrsten und im übertragenen Sinne des Wortes an Höhe zu gewinnen. Rachel spürte das Blut in ihren Schläfen pulsieren. Sie genoss die frische Meeresbrise, schloss die Augen und atmete tief durch. Nach einer Weile spürte sie, wie ihr Herzschlag sich beruhigte und ihre Gedanken klarer wurden. Sie ging noch einmal die Elemente der Gleichung mit neuen Unbekannten durch. Wer hat meinen Computer durchsucht? Wer will mir schaden? Gibt es einen Verräter unter uns?
Beim ersten Lesen der E-Mail hatte sie zunächst an einen Scherz geglaubt, doch dann hatte sie verstanden, dass dem nicht so war.
Das Schilfrohr ist eine giftige Pflanze. Du solltest
sie nicht länger anbauen, ihr Gift ist tödlich.
Claus Dalby
Claus Dalby war der Stargärtner der dänischen Medien, Autor verschiedener Bücher und Moderator einer Gartensendung.
Sehr witzig.
Aber ihr war nicht nach Lachen zumute. Der anonyme Briefschreiber bedrohte sie mit dem Tod. Vor allem aber bedeutete das, dass er von ihrer geheimen Datei wusste. Doch es gab nur zwei Kopien von dem Dokument »Eiche und Schilfrohr«: eine bei ihr zu Hause in Ø restad, eine zweite, passwortgeschützte, in Peters Büro. Und nur zwei Menschen kannten den Namen: Peter und Jesus. Ihr Vertrauen in Peter war unerschütterlich. Was Jesus betraf, so war er seit einigen Monaten außer Gefecht. Die zweite Hypothese war also die von einem Spitzel in den eigenen Reihen. Mein Gott … Rachel atmete tief durch, die Angst begann ihr Gift zu verteilen. In welche verfluchte Lage habe ich mich bloß gebracht? Wenn nur Jesus noch da wäre, um mir zu helfen …
KAPITEL ZWÖLF
Vom Turm der Frelsers Kirke aus betrachtete Rachel jene Stadt, die die ihre geworden war, und ließ ihre Gedanken schweifen. Von Dezember 2009 bis März 2010 hatte sie allein an der Sache gearbeitet. Sie war allen Spuren nachgegangen, die Jesus ihr geliefert hatte, ohne mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Jede Äußerung, jedes Eingreifen, jeder Blog oder jede Initiative, die den Klimawandel leugnete – egal, ob sie von einer bekannten Persönlichkeit oder von einem einfachen Bürger kamen –, hatte sie zurückverfolgt. Jede Polemik untersucht und analysiert, um
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