Wehrlos: Thriller
hatte, in ihr geweckt hatte?
Magdalone hatte ihr geraten, es täglich zu zelebrieren, wenn sie Erfolge sehen wollte. Und Magda besaß hellseherische Fähigkeiten. Sie hatte »gesehen«, dass Rachel einen Unfall haben und dass Sacha »aufstehen« würde. Diese Weissagungen waren ihr in den Runen erschienen, einem alten Alphabet der nordischen Völker, das einen verborgenen Sinn enthielt für denjenigen, der es zu entschlüsseln wusste.
Obwohl sie seit Langem Nachbarinnen waren, hatten Christa und Magdalone erst im letzten Frühjahr zum ersten Mal wirklich miteinander gesprochen – auf einem karitativen Flohmarkt zugunsten der Familien verschollener Seeleute. Christa verkaufte vor dem Haus ein paar Reisebücher. Magdalone, die herumschlenderte, war bei ihr stehen geblieben und hatte sich einen Fotoband über Voodoo-Riten angesehen. Um ehrlich zu sein, war sie alles andere als eine ansprechende Erscheinung. Sie hatte ein längliches Gesicht, kohlschwarzes Haar, durch das sich weiße Strähnen zogen, kleine lauernde Augen, eine Stupsnase, ein fliehendes Kinn und schiefe Zähne. Sie gehörte zu jener Art Nachbarn, mit denen man kaum sprach, über die jedoch häufig hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde.
»Es sind wunderschöne Aufnahmen«, hatte Christa gesagt und das Buch vor ihr geöffnet.
»Wie viel wollen Sie dafür?«
»Hundert Kronen.«
»Ich nehme es.«
Magdalone hatte ihre Hand mit den braun lackierten Nägeln in ein Perlenhandtäschchen gesteckt, das ebenso schwarz war wie ihr Kleid mit dem runden Kragen und die eckigen Schuhe. Christa hatte sich gesagt, dass sie sich kleidete wie eine Witwe. Aber das war sie nicht. Durch irgendwelchen Tratsch hatte Christa erfahren, dass ihr Mann als schlecht bezahlter Mechaniker auf einem Fährschiff zwischen Dänemark und Schweden arbeitete. Um etwas dazuzuverdienen, betätigte sie sich als Hellseherin und halbtags als Aufseherin in der Klinikmüll-Verbrennungsanlage des Rigshospitalet.
Seit dem Tod von Lars und der Behinderung von Sacha interessierte sich Christa mehr und mehr für Spiritualität und Okkultismus. Sie hatte das Buch in Seidenpapier gewickelt und, als sie ihr das Wechselgeld reichte, leise gefragt: »Es heißt, Sie legen Karten?«
»Stimmt.«
Magdalone schien nicht sonderlich überrascht. Sie hatte erneut in ihre Tasche gegriffen und eine Visitenkarte mit der Aufschrift »Magda, Wahrsagerin« sowie ihrer Adresse, E-Mail und Telefonnummer herausgezogen. »Rufen Sie mich an.«
Christa hatte zwei Tage gewartet, ehe sie sich meldete, und die beiden hatten sich für den Nachmittag bei Magdalone, die zwei Häuser weiter wohnte, verabredet.
Kurz nachdem sie bei ihrer Nachbarin eingetreten war, saß Christa schon in einem vollgestellten Wohnzimmer an einem klebrigen, schweren Nussbaumtisch – ein Erbstück. Magdalone, die Christa sofort geduzt hatte, hatte vor ihr Karten mit Runensymbolen ausgelegt. »Zieh eine.«
Aufgeregt hatte Christa den INGWAZ , zwei einander gegenüberliegende Vs, aufgedeckt. Es war die zweiundzwanzigste Rune des älteren Futhark, das Symbol des möglichen Schöpfers.
Magdalone hatte die Augen halb geschlossen und dann voller Emphase erklärt: »Ingwaz befreit den Geist von allen negativen Gedanken. Es ist die Rune der Erfüllung, der Geduld und Besinnung und der Beweis dafür, dass es immer einen Ausweg gibt.«
Christa hatte sie verblüfft angeschaut, aber dann, ohne es zu wollen, fasziniert an den Lippen der Wahrsagerin gehangen.
»Achtung, jetzt gilt es voranzukommen«, erklärte diese weiter, »und nicht die vergangenen Irrtümer und Probleme zu wiederholen. Wende das Blatt, das Beste liegt vor dir.«
Christa, die immer mehr Vertrauen fasste, drängte sie: »Was heißt das?«
»Bereite dich darauf vor, etwas Großes zu vollbringen. Zu handeln. Lass dich nicht von den Ereignissen bestimmen, sondern nimm die Dinge selbst in die Hand.«
»Und nun?«
»Zieh eine andere Karte.«
Eine Stunde später verließ Christa völlig aufgewühlt Magdas Wohnung und ging fast wie in Trance nach Hause. Sie hatte das Licht gesehen und die Nachricht verstanden, die ihr die unsichtbaren Kräfte durch diese hellseherische Frau geschickt hatten.
Sie liebte Rachel aufrichtig und war vernarrt in Sacha. Aber sie warf ihrer Schwiegertochter vor, nur logisch und rational zu denken und die Bedeutung des Emotionalen für die körperliche Gesundheit außer Acht zu lassen. Der Geist vermochte den Körper zu heilen. Was die angeborene Behinderung
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