Wehrlos: Thriller
verlassenen Kreuzung in Pennsylvania das Motorrad des jungen Mannes gestreift. Das zumindest hatten die Kollegen von Green Growth US berichtet, die es selbst von den Mitgliedern der Climate Action Group erfahren hatten. Ihren Informationen zufolge lag Jesus irgendwo in Amerika im Kreise seiner Familie schwer verletzt im Koma. Er war sich weder seiner Umgebung noch seines Zustands bewusst und auch nicht der Tatsache, dass man in Erwägung zog, seine Behandlung und die künstliche Ernährung abzubrechen.
Die Vorstellung, dass Jesus irgendwo auf der anderen Seite des Atlantiks dahinvegetierte, deprimierte sie zutiefst. Und noch dazu wusste sie nicht einmal seinen richtigen Namen.
»Eiche und Schilfrohr« … Er hatte als Erster die Idee für diesen Decknamen nach der Fabel von Lafontaine gehabt, in der die Eiche das in ihren Augen schwächliche Schilfrohr bedauert. Doch dieses trotzt dem Sturm, während die stolze Eiche wankt und stürzt. Rachel dachte an die Drohmail, die mit Claus Dalby unterzeichnet war. Wer sonst hätte sich noch Zugang zu ihrem Dokument verschaffen können? Dass jemand bei ihr eingedrungen sein und es gefunden haben könnte, schien ihr unwahrscheinlich. Blieb nur Peters Computer. Jemand müsste in sein Büro gelangt sein und das Passwort geknackt haben. In diesem Fall bestand nicht wirklich Anlass zur Panik, denn sein Dokument war nur eine Zusammenfassung des Berichts. Die Beweisstücke, die sie geduldig zusammengetragen hatte, waren in Sicherheit bei ihr zu Hause. Das zumindest hatte sie geglaubt. Musste sie ihre Arbeitsweise ändern? Musste sie Misstrauen gegenüber allen in ihrer Umgebung hegen?
Plötzlich spürte Rachel, dass jemand hinter ihr war, und fuhr herum. Ein kräftiger Mann mit grauem Haar war keuchend die letzten Stufen des Kirchturms heraufgestiegen. Er trug eine rote Windjacke über einem weißen Poloshirt, Wanderschuhe und einen kleinen Rucksack. Ein Tourist. Höflich grüßte er Rachel und trat neben sie, um die Aussicht zu bewundern.
» It’s fabulous !«
Sein Englisch hatte einen starken französischen Akzent. Er erinnerte Rachel an ihren Sportlehrer, der sie unterstützt hatte, als sie gegen den Willen ihrer Eltern eine Volleyballausbildung am Sportgymnasium hatte machen wollen, und so war er ihr auf Anhieb sympathisch.
»Ja, es ist wunderschön hier oben«, sagte Rachel auf Französisch.
»Sie sind Französin?«, fragte er, sichtlich erfreut, auf eine Landsmännin zu treffen.
»Halb.«
»Ist es indiskret zu fragen, was die andere Hälfte ist?«
»Dänisch.«
Der Mann nickte. »Ich liebe dieses Land. Hier ist alles so ruhig. Nicht wie bei uns.«
Er deutete auf die bunten Dächer. »Nun sehen Sie sich nur diese Harmonie an. Das wirkt auf mich immer wie ein Gemälde.«
Rachel betrachtete die Puppenhäuschen. »Auf mich auch.«
»Jedes Mal, wenn ich in Kopenhagen bin, komme ich hierher, und jedes Mal habe ich den Eindruck, den Puls der Stadt zu fühlen.«
»Sind Sie oft hier?«, erkundigte sich Rachel.
»Ja, ich bin dieser Stadt sehr verbunden.«
»Arbeiten Sie hier?«
Er zeigte ein kleines verschmitztes Lächeln, und seine Augen blitzten auf. »Ich meine nicht diese Art Bindung.«
Rachel hielt nachdenklich inne. Die Worte des Touristen hallten in ihrem Geist wider, als hätten sie eine tiefere Bedeutung. Und plötzlich war alles so klar, so offensichtlich, dass die junge Frau zusammenzuckte.
» Wie konnte ich nur so dumm sein !«
Der Franzose sah sie mit großen Augen an. »Wie bitte?«
Rachel bedankte sich bei ihm. »Sie haben mir wahrscheinlich sehr geholfen, wertvolle Zeit zu sparen.«
Ohne sich weiter um seinen verblüfften Blick zu kümmern, wünschte sie ihm einen schönen Aufenthalt und sah auf ihre Uhr. Fast zwei Uhr. Sie brauchte Zeit und würde sicher nicht rechtzeitig zurück sein. Also machte sie sich an den schwindelerregenden Abstieg und schrieb nebenbei eine SMS an Christa.
Kannst du mir aushelfen und Sacha abholen?
Ich treffe euch dann zu Hause. Call me.
Unten angekommen, bekam sie endlich mal eine Antwort von ihrer Schwiegermutter: Kein Problem.
Rachel atmete erleichtert auf.
KAPITEL DREIZEHN
Christa saß in dem alten Schaukelstuhl in ihrem Zimmer. Sie befand sich in einer seltsamen Gemütsverfassung, so als würde sie zwischen zwei Welten schweben. War ihr der Geruch der Räucherstäbchen zu Kopf gestiegen? Hatte ihr Herz erneut Aussetzer? Oder waren es die heftigen Emotionen, die dieses Ritual, das sie zum ersten Mal ausgeführt
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