Wehrlos: Thriller
bedacht. Dann folgte der Urteilsspruch: »Deine Mutter und ich haben uns immer gefragt, was wir bei dir falsch gemacht haben. Was mich betrifft, so bist du zu weit gegangen, für mich existiert meine jüngste Tochter nicht mehr.«
Mit trockenen, brennenden Augen hatte Rachel sich abgewandt, war hinausgegangen und hatte die Tür, ohne sie zuzuknallen, hinter sich geschlossen. Ich hasse ihn , hatte sie gedacht. Auf dem Weg zum Demonstrationszug schlug ihr das Herz bis zum Hals, sie zitterte am ganzen Leib und wusste, dass sie an einem Wendepunkt ihres Lebens angelangt war. Sie hatte ihre persönlichen Überzeugungen gegenüber ihrem Vater vertreten, ohne den Blick zu senken oder sich von seinen Drohungen beeindrucken zu lassen.
Vierzehn Jahre später begriff Rachel in ihrem Büro im Roten Haus, wohin ihr Unterbewusstsein sie führen wollte. Sie durchlebte einen ebenso entscheidenden Wendepunkt wie damals. Angesichts der Fotos ihrer beiden Feinde war ihr klar, dass sie ihnen gegenüber nicht Angst empfinden musste, sondern Stolz, weil sie für ihre Sache eintrat.
KAPITEL FÜNFZEHN
Sobald sie die Tür ihrer Wohnung in Ø restad öffnete, stieg ihr der Geruch nach Gemüseeintopf in die Nase.
Auf dem Herd thronte der Dampfkochtopf, den sie vielleicht einmal in den letzten drei Jahren benutzt hatte. Auf dem Schneidbrett neben dem Spülbecken türmten sich Gemüseabfälle, und auf einem Teller warteten Fleischbällchen darauf, in der Pfanne gebraten zu werden. Der Wohnraum war hell erleuchtet, aber leer, aus dem Badezimmer drangen Geplapper und Geplätscher. Rachel streckte den Kopf durch die Tür.
Sacha, dessen Haar eingeseift war, rief: »Mama!«
»Alles in Ordnung?«
»Guten Abend, Rachel«, rief Christa fröhlich.
Die Großmutter saß auf einem Hocker neben der Badewanne. Die Ärmel ihrer olivgrünen Bluse, die ihren Augen einen besonderen Glanz verliehen, waren aufgekrempelt. Pony und Bananenknoten waren wie immer tadellos, doch Rachel bemerkte ihre angespannten Züge. Sie kniete sich neben sie. Sacha ergriff seinen Mini-Ski-Doo und tauchte ihn, begleitet von verschiedenen gurgelnden Lauten, unter Wasser. Um den Kleinen zum Lachen zu bringen, schlug Rachel mit der Hand Wellen. Ihr Blick fiel auf den Rücken ihres Sohnes und verharrte traurig auf der hellroten Narbe im Lendenbereich.
Dabei war die Schwangerschaft problemlos verlaufen. Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Niels auf der Serendipity hatten sein Mut und seine Entschlossenheit sie sofort fasziniert. Sie hatte sich in seine Energie, sein Charisma und sein bedingungsloses Engagement verliebt. Schweigsam, rau und kompromisslos, wie er war, konnte man Niels nicht als besonders aufmerksamen Mann bezeichnen, aber sein Blick war so sanft, dass sie ihm nicht widerstehen konnte.
Nach einer mehrmonatigen leidenschaftlichen Beziehung war sie ungewollt schwanger geworden und hatte gezögert, abtreiben zu lassen. Aber schließlich hatten sie gemeinsam in einem Anfall von Leichtsinn oder Sorglosigkeit beschlossen, das Kind zu bekommen. Niels schien zwar glücklich darüber, Vater, nicht jedoch wild darauf zu sein, auch Ehemann zu werden. Wenn er von einer Kampagne auf dem Meer zurückkam, stellte der Seemann sein Gepäck mal bei ihr, mal bei Christa ab. Er ging oft aus, war im Hafenviertel von Kopenhagen bekannt wie ein bunter Hund, trank mit seinen Freunden und besuchte gerne verrauchte Kneipen. Rachel sagte nichts, wenn er erst am frühen Morgen oder auch gar nicht nach Hause kam. Nicht einmal, als sie sah, wie Hanne ihn erneut umgarnte. Sie wusste nicht, wie sie ihren Platz verteidigen sollte, und verbarg diese Unfähigkeit hinter vorgeblichem Respekt für die individuelle Freiheit, die sie mit Überzeugung vertrat.
So hatte sie ihre Schwangerschaft sehr einsam verbracht. Auch wenn ihre Kollegen von der GG sich um sie kümmerten, war sie doch die meisten Abende allein zu Hause und beobachtete, wie ihr Bauch dicker und ihr Gang schwerer wurde.
Im Grunde ihres Herzens war sie unglücklich und verging fast vor Ungeduld, beschwerte sich aber so wenig wie möglich, da sie wusste, dass ihr Partner bei der kleinsten Kleinigkeit für immer verschwinden könnte. Dabei wartete sie mit einer unsinnigen Hoffnung auf den Tag der Geburt, als würde dieses Ereignis alle Probleme lösen und Niels nach und nach dazu bewegen, auf seine langen Reisen und nächtlichen Streifzüge zu verzichten. Vielleicht würde er ja mit ihnen zusammenleben, und sie würden eine wirkliche
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