Wehrlos: Thriller
Peter setzte seine Recherchen mit finsterer Miene fort. Nichts war zu hören bis auf das Klicken der Tastatur und die Schreie der Möwen auf dem Kanal.
»Hannah Renoksen ist die Schwester von Hans Renoksen, dem Generaldirektor von RenokPharma.«
Rachel ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Verdammt noch mal, das gibt’s doch nicht.«
RenokPharma war ein dänischer Pharmakonzern, der einen Prozess gegen GG angestrengt hatte.
Seit 1930 war der Konzern auf die Behandlung von Diabetes spezialisiert, seit Neuerem aber auch auf neurodegenerative und psychiatrische Erkrankungen. Es handelte sich um eines der größten Pharmalabore des Landes, mit dreitausend Beschäftigten an vier Standorten.
Sechs Jahre zuvor war der Konzern mit Green Growth aneinandergeraten. Drei Aktivisten waren im Alleingang in die Tiergehege des Labors in einem Vorort von Kopenhagen eingebrochen. Die gut organisierte Aktion hatte zweiunddreißig Minuten gedauert – Zeit genug, um ein Dutzend Katzen, Hunde und Affen zu befreien, die auf der Stelle in Lieferwagen in ein geheimes Reservat gebracht worden waren, das Opfer von Vivisektionen aufnahm.
Die drei Aktivisten hatten sich telefonisch im Namen von Green Growth zu der Aktion bekannt. In Wahrheit hatte Peter erst nachträglich von der Sache gehört. Er hatte sie öffentlich verurteilt, weil sie nicht der pazifistischen Linie von Green Growth entsprach. Die drei Aktivisten waren verschwunden, ohne die Verantwortung für ihre Handlung zu übernehmen, und Peter hatte mehrere Anwälte einschalten müssen, um GG vor Gericht und gegen die infamen Anschuldigungen des Pharmakonzerns zu verteidigen. Green Growth hatte verloren. Sie hatten Geld und Federn gelassen. Peter hatte sich zwar offiziell von der Aktion distanziert, trotzdem hatte die Organisation Schadenersatz in Höhe von Hunderttausenden von Kronen an Renoksen leisten müssen. Noch heute zahlte GG den Kredit ab.
Als Peter am letzten Prozesstag vor der Urteilsverkündung draußen eine Zigarette geraucht hatte, war Hans Renoksen zu ihm getreten und hatte ihm zugeflüstert: »Wir kriegen euch!«
Rachel schrieb seinen Namen in großen Lettern neben den von Hannibal Reed. »Noch ein › HR ‹ «, stellte sie lakonisch fest.
»Reed und Renoksen haben eine weitere Gemeinsamkeit.«
»Welche?«
»Sie verabscheuen uns.«
■ ■ ■
Ein Windstoß hatte die Blätter der Akte von ihrem Schreibtisch auf den Boden gefegt. Rachel schloss eilig das Fenster. Das Wasser des Kanals kräuselte sich unter der Brise. Erste Regentropfen trommelten gegen die Scheibe. Sie sammelte die verstreuten Blätter ein. Endlich hatten sie eine Spur. Die nächsten zehn Minuten verbrachte sie damit, Informationen über Renoksen zusammenzutragen. Auf Google-Bilder fand sie ein kleines Foto von ihm, das sie anklickte, um es zu vergrößern: graublondes, kurz geschnittenes Haar, kantiges Gesicht, harte graue Augen, feine Nase, schmaler Mund mit tiefen Nasolabialfalten. Daneben öffnete Rachel ein Bild von Hannibal Reed, dem achtundsiebzigjährigen Geschäftsmann: dichtes, nach hinten frisiertes, schlohweißes Haar, hellblaue, fast transparente Augen, Hakennase. Herausfordernd betrachtete Rachel ihre Widersacher. Plötzlich kam ihr eine Assoziation, die nur vom Unterbewusstsein ausgelöst worden sein konnte und die sie vierzehn Jahre zurückversetzte.
Sie war achtzehn Jahre alt und stand in ihrem weißen Overall mit der Aufschrift »Atommüll«, den an diesem Tag alle Demonstranten auf der Place du Trocadéro trugen, vor ihrem Vater Jorg Karlsen im Eingang der großen Pariser Wohnung.
»Wenn du jetzt diese Tür hinter dir schließt, Rachel, musst du künftig allein klarkommen, denn ich werde nichts mehr für dich bezahlen. Ich füttere doch nicht eine Tochter durch, die die Arbeit ihres Vaters ablehnt und die Hand beißt, die sie ernährt!«
Obwohl sie neben dem hochgewachsenen, hageren Vater klein und zerbrechlich wirkte, hatte Rachel ihn herausgefordert.
»Du hast ganz recht, hör auf, mich zu unterstützen, denn dieses Geld, das aus den Todesfabriken kommt, macht mich nur krank. Deine Arbeit besteht darin, Kriminelle zu verteidigen, die unseren Planeten vergiften. Ich denke an die Zukunft und an die meiner Generation.«
Jorg Karlsen hatte diesen Schlag, wie bei jeder Auseinandersetzung mit seiner Jüngsten, mit verhaltenem Zorn eingesteckt. Er hatte nicht die Hand gegen sie erhoben, das hätte er nie getan. Er hatte sie nur mit einem eisigen, vernichtenden Blick
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