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Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Titel: Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegund Keul
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aus dem Lukas-Evangelium. Walter Jens meint sogar, dass es »der bekannteste Text der Weltliteratur« (Jens 2007, 12) sei. Dieser beginnt mit den Worten: »In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen.« (Lk 2,1) Das magzunächst harmlos klingen. Aber der zweite Blick lässt Schlimmes ahnen: Steuerlisten. Auch nach Jahrhunderten schwant da nichts Gutes. Eine Staatsmacht greift zu und stellt Forderungen. Sie hat die Macht, die finanziellen Ressourcen der Bürgerinnen und Bürger anzutasten. Sie kann Steuern einnehmen, eintreiben oder gar abpressen. Steuern sind eine heikle Angelegenheit. Denn oft sind sie ungerecht, sie machen die Reichen noch reicher und die Armen noch ärmer.
    Der Machtzugriff des Kaisers bringt die Menschen seines Reiches zwangsläufig in Bewegung. Die Familien müssen in den Geburtsort der Männer gehen, um sich registrieren zu lassen. »So zog auch Josef von der Stadt Nazaret in Galiläa hinauf nach Judäa in die Stadt Davids, die Betlehem heißt; denn er war aus dem Haus und Geschlecht Davids. Er wollte sich eintragen lassen mit Maria, seiner Verlobten, die ein Kind erwartete.« (Lk 2,4 f) Eine hochschwangere Frau ist mit ihrem Verlobten unterwegs an Orten, wo sie nicht auf das Entgegenkommen von Verwandten, Freundinnen und Freunden vertrauen kann – wie es ihr wohl ergeht in dieser Fremde? »Als sie dort waren, kam für Maria die Zeit ihrer Niederkunft, und sie gebar ihren Sohn, den Erstgeborenen. Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, weil in der Herberge kein Platz für sie war.« (Lk 2,6 f)
    Mit nur wenigen Worten wird hier eine Personengruppe benannt, die in den heutigen Weihnachtserzählungen und Krippenspielen gern ausgemalt wird: die Menschen in der Herberge. Sie sind beliebte Figuren, denn sie rühren an ein Grundbedürfnis des Menschen. Es geht darum, ein Dach über dem Kopf zu haben unddurch Wände vor unliebsamen Übergriffen bewahrt zu werden. Obdach zu genießen und in einer Wohnung zu leben gehört heute zu den allgemeinen Menschenrechten (Art. 25/1). Wer draußen leben muss, ist ungeschützt, die Verwundbarkeit erhöht sich schlagartig. Für Menschen, die in der Fremde unterwegs sind, ist Obdach nichts Selbstverständliches. Wer nicht genug Geld hat oder gar auf der Flucht ist, wird nur schwer eine angemessene Unterkunft erhalten. Da man selbst keinen Wohnraum zur Verfügung hat, ist man auf die Gastfreundschaft Anderer angewiesen, selbst wenn man dafür bezahlen kann.
    Die Chancen auf eine gute Unterkunft werden geringer, je schwieriger die eigenen Lebensumstände sind. Dass die junge Familie keinen Platz in der Herberge findet, ist daher kein Zufall. Die Herbergen mögen mancherorts voll sein, weil so viele Menschen wegen der Volkszählung unterwegs sind. Aber das ist nicht alles. Immerhin geht es hier um eine hochschwangere Frau, die bald gebären wird. Jede Geburt aber ist eine Herausforderung – nicht nur für die Eltern, sondern für alle, die es mit ihr zu tun bekommen. 1 Sie erfordert Positionierungen in die eine oder andere Richtung. Eine Geburt macht Arbeit und verbraucht Lebensressourcen. Sie erzeugt Lärm, sie stiftet Unruhe und ist für alle Beteiligten eine riskante Sache. 2
    Wenn die Gebärende unbekannt ist, weiß man zudem nicht, ob sie Krankheiten oder Ungeziefer oder sonstigen Ärger aller Art mit ins Haus bringt. Geschwächt und angestrengt sieht sie jedenfalls aus. Daher ist es schon leichter zu sagen, dass leider kein Platz mehr in der Herberge sei. Stünde der König des Landes vor der Tür, sowürde er selbstverständlich großzügig Raum erhalten. Aber die Schwangere, die kurz vor der Niederkunft steht, erhält keinen Einlass. Hier zeigt sich ein Verhalten, das Menschen in Armut häufig widerfährt: Die Frau, die wegen ihrer Schwangerschaft am meisten Schutz bedarf, wird aus den Schutzräumen der Gesellschaft ausgeschlossen. Und das im wahrsten Sinn des Wortes. Weil sie ein Risiko verkörpert, wird die Tür vor ihr verschlossen. Die Menschen in der Herberge zeigen keine Bereitschaft, ihre Lebensressourcen zu teilen. Sie befürchten, dass die Schwangere sie in Schwierigkeiten bringt und zu viel kostet.
    Das Verhalten der Herbergsleute ist nur zu gut verständlich. Denn es entsteht aus dem Bedürfnis, sich selbst zu schützen. Die Herbergsleute – Besitzer und Bewohner – greifen zwar Andere nicht an, fügen Anderen keine Wunden zu und verhalten sich nicht aggressiv. Sie tun

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