Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
langen, gefährlichen und kräftezehrenden Pfaden unterwegs waren, der Grenzübertritt verweigert wird, wann ist das ein In-Kauf-Nehmen? Wann wird aktiv Gewalt ausgeübt? Seit die Grenzen innerhalb Europas durchlässiger wurden, wandelt sich Europa insgesamt zu einer Herberge, die noch dazu gut befestigt ist. Aus gutem Grund spricht man mittlerweile von der »Festung Europa«. Sie weist unzählige Menschen zurück, die Zuflucht in der Herberge brauchen. Alle Menschen, die in Europa leben und von Frontex profitieren, sind Herbergsleute. Wegschauen und die eigenen Ressourcen bewahren, vielleicht sogar horten, das ist hier ein weit verbreiteter Schutzmechanismus.
Dabei gibt es auch Menschen in Europa, die selbst schon so stark verwundet sind, dass es ihnen schwerfällt, auf die Verwundungen Anderer zu achten. Wenn die Erwerbslosigkeit im Land enorm hoch ist und Jugendliche kaum noch Zukunftsperspektiven haben, kann eine Grenzöffnung riskant werden. Nicht allen Menschen in der Herberge geht es gut. Aber gerade der Blick auf diese Menschen zeigt, wie prekär die Macht der Verwundbarkeit ist. Wann rechtfertigt die eigene soziale Situation dasAbweisen von Hungerflüchtlingen oder den Waffengebrauch an der Grenze?
Die Grenzsicherung Europas zeigt, was auch andernorts virulent ist. Das sehr verständliche Bemühen darum, selbst nicht verwundet zu werden, fordert unsägliche Opfer. Welche Ressourcen setzt man ein, um Verwundungen zu vermeiden? Handelt es sich hier um eigene oder um fremde Ressourcen – die Bodenschätze anderer Länder, die Arbeitskraft von Menschen in ruinösen Arbeitsbedingungen, die Ressourcen späterer Generationen? Welche Ressourcen werden von mir verbraucht, obwohl sie andernorts viel dringender gebraucht würden?
Die biblischen Weihnachtsgeschichten weisen auf solche Fragen hin. Sie schärfen die Aufmerksamkeit für die unsägliche Macht, die aus der eigenen Verwundbarkeit entsteht. Gerade weil diese Macht so unerhört ist, muss sie zur Sprache kommen. Selbstschutz und Verwundung Anderer liegen oft dicht beieinander. Wohl kaum jemand führt sich gern vor Augen, dass man z. B. durch das Zahlen von Steuern indirekt daran beteiligt ist, dass Hungerflüchtlinge an der Landesgrenze zurückgewiesen werden. Es widerstrebt der eigenen Ethik und dem Bekenntnis zu den Menschenrechten. Aber nur wenn solche Machtfragen offen zur Sprache kommen, benannt und diskutiert werden, kann man entscheiden, in welche Richtung man sie beantwortet. Die Verwundungen, die Andere erleiden, dürfen weder verharmlost noch verschwiegen werden. Vielmehr gilt es, den Blick gezielt auf die Opfer der Anderen zu richten und danach zu fragen, was der Selbstschutz kostet – nicht nur uns selbst, sondern auch die Anderen.
Herodes-Strategien überwinden – wider die Utopie der Unverwundbarkeit
Im Spektrum dessen, was Menschen zum Selbstschutz tun können, ist die Herodes-Strategie besonders prekär. Leider ist sie nicht nur eine Sache biblischer Vergangenheit. Um sich selbst zu schützen, verwundet man auch heute noch Andere – im Kleinen wie im Großen, im Privatleben wie in der Politik. Das Bemühen um Nicht-Verwundung erzeugt unsägliche Opfer. Nicht-Verwundung kostet. Dabei wird die Herodes-Strategie besonders gefährlich, wenn sie mit der Utopie der Unverwundbarkeit verbunden wird, die bereits bei Herodes eine heikle Rolle gespielt hat. Dies erläutere ich im Folgenden anhand von zwei Beispielen, die mit Fragen der Migration verbunden sind: der Arabische Frühling und die sogenannten Arrival Cities .
Die zerstörerische Macht der Herodes-Strategien
Urbild der Unverwundbarkeit ist der griechische Held Achill. Seine Mutter, eine unsterbliche Göttin, tauchte ihn als Kind in den Unterweltfluss. Denn das Wasser dieses Flusses macht unverwundbar und könnte damit die Sterblichkeit des menschlichen Vaters, eines Königs, überwinden. Allerdings hält die Mutter Achill an der Ferse fest, als sie ihn in die Fluten taucht. So entsteht die sprichwörtliche »Achillesferse«, seine verwundbare Stelle, die später von einem tödlichen Pfeil getroffen wird. Ganz ähnlich verläuft die Geschichte bei Siegfried, der im Blut des Drachen badet, aber das Lindenblatt zwischen seinen Schulterblättern übersieht. Auffällig ist, dass beide Männer »Kriegshelden« sind, Heroen, die inden Kampf ziehen und dort ihre Unverwundbarkeit einsetzen. Die Überzeugung, unverwundbar zu sein, führt bei ihnen nicht dazu, dass sie in aller Gelassenheit ein
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