Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
verhindern. Dieskann durchaus Leben schützen, bewahren und eröffnen. Es kann aber auch in vielen Varianten gefährlich werden bis dahin, dass es den Tod bringt, und zwar häufig den Anderen.
Besonders prekär und damit signifikant wird Verwundbarkeit im Kontext jener weltweiten Migration, die heute allerorten zu Verwerfungen führt. Der kanadisch-britische Journalist und Migrationsforscher Doug Saunders schreibt über die Ortswechsel vom Land in die Stadt: »Diese Bewegung erfasst eine bisher noch nie da gewesene Zahl von Menschen – zwei oder drei Milliarden, vielleicht ein Drittel der Weltbevölkerung – und wird nahezu alle Menschen auf spürbare Weise betreffen.« (Saunders 2011, 7) Auch in den Migrationsdebatten ist »Vulnerabilität« ein Schlüsselbegriff. 29 Denn Menschen, die draußen auf ungewissen Wegen unterwegs sind, sind verletzlicher als andere, die sich zuhause in sicheren Räumen aufhalten.
Dabei ist es wichtig, zwischen freiwilliger und erzwungener Migration zu unterscheiden, auch wenn die Grenzen manchmal fließend sind. Auf der einen Seite migrieren Menschen freiwillig. Ins Ausland zu gehen und dort eine Zeit lang zu studieren steht bei vielen Studierenden ganz oben auf der Wunschliste. Menschen wechseln ihren Lebensort, weil sie dem Ruf der Liebe folgen, sich bessere Berufschancen ausrechnen oder weil die Lebenskultur eines anderen Landes sie anzieht. Auch solche freiwillige Migration erhöht Vulnerabilität, denn man verlässt soziale Netzwerke, man ist in der Fremde, frühere Absicherungen gelten nicht mehr, Lebensumstände werden weniger kalkulierbar. Aber wenn Menschen dieses Risiko freiwillig eingehen, dann fühlen sie sich nichtprimär als Victim, selbst wenn diese Entscheidung ihnen Opfer abverlangt. Sie geben ein Sacrifice, weil sie sich viel mehr erhoffen, als sie riskieren.
Bei unfreiwilliger Migration, die politischen, wirtschaftlichen oder ökologischen Gründen folgt, steht hingegen zunächst der Victim-Charakter im Mittelpunkt. Vulnerabilität erhöht sich in potenzierter Form. Wenn man gehen muss, so ist das viel schwerer, als wenn man sich freiwillig und freudig aufmacht. Dabei ist entscheidend, welche Möglichkeiten Menschen erhalten, am Zielort im Sinn der Natalität einen neuen Anfang zu setzen. Im Jahr 2013 liegt die Zahl der erwerbslosen Jugendlichen in Spanien bei 56 Prozent. Wenn Jugendliche nun ins Ausland gehen und eine Ausbildung beginnen, erhalten sie dort eine solche Chance – und sind sie bereit, sie im Sinne der Natalität zu ergreifen? Wenn ja, dann kann sich die Dominanz des Victim-Seins in ein Sacrifice verwandeln, das befreit und Leben eröffnet.
Die Verwundbarkeit ist am höchsten bei Menschen, die fliehen müssen, um ihr Leben zu retten. Flüchtlinge haben gute Gründe, sich so weit wie möglich abzusichern und vor Verwundungen zu schützen. Weil sie so verwundbar sind, brauchen sie Schutz. In heutigen Migrationsdiskursen ist Vulnerabilität daher etwas, das es zu vermeiden gilt. Das »Fenster der Verwundbarkeit« soll möglichst dicht verschlossen werden. Häufig wird die Flucht zu einem Weg ins Ungewisse. Dies ist bedrängend für Menschen, die fliehen müssen. Es kann aber auch bedrängend werden für jene, die sich von dieser Flucht Anderer in ihrer eigenen Verwundbarkeit angetastet sehen. Die Insel Lampedusa steht heute für diese Problematik. 30 Menschen befürchten, dass die FluchtAnderer oder einfach deren Arbeitsmigration die eigenen Ressourcen bedrohen: Der eigene Arbeitsplatz kann in Gefahr geraten oder der Lohn wird drastisch reduziert; der eigene Lebensort im Stadtviertel kann sozial abrutschen, wenn sich viele Migrantinnen und Migranten ansiedeln; die Sozialversicherungssysteme geraten unter Umständen ins Wanken.
Dies alles muss nicht eintreten. Aber allein schon die Befürchtung, dass dies geschehen wird, kann eine Haltung der Natalität den Neuankömmlingen gegenüber verhindern. Vulnerabilität zeigt sich global als prekär, weil man jederzeit selbst von ihr getroffen werden kann. Das macht die Auseinandersetzungen um Migration so konfliktbeladen und gewaltbesetzt. Und diese Auseinandersetzungen sind mittlerweile nicht mehr weit weg in anderen Ländern, sondern sie finden an den eigenen Landesgrenzen, im benachbarten Stadtviertel, direkt vor der Haustür oder sogar im eigenen Wohnhaus statt. Sie werden, wie Doug Saunders sagt, fast alle Menschen spürbar betreffen, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise.
Migration ist das, was
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