Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Kulturen und Staaten angewandt. Sie fängt alltäglich im Kleinen an, kann aber bis zur Bluttat führen, die bedenkenlos Leben niedermetzelt. Auch die Kirche, die eigentlich der christlichen Alternative gewagter Selbsthingabe folgen müsste, hat sie im Lauf der Geschichte bis heute immer wieder angewandt. Religionen setzen die Herodes-Strategien oft sogar besonders konsequent und grausam ein, weil sie überzeugt sind, das Recht des Heiligen auf ihrer Seite zu haben. Das zeigen die religiös motivierten Selbstmordattentate, die die politische Landschaft in den letzten Jahren neu formiert haben.
Ankunftsstädte – überraschende Orte einer Kultur des Teilens
Zur Zeit erwachsen Migrationsströme aus globalen Umbrüchen und rufen zugleich tiefgreifende Konflikte hervor. Auch hier kommen Herbergs- und Herodes-Strategien häufig zur Anwendung. Da es in der Migration um die Verteilung von Ressourcen und den Zugang zu Lebensmitteln geht, versuchen Einzelpersonen, Städte und Staaten, sich möglichst unverwundbar zu machen. Diese Problematik verkörpert sich in Orten, denen Doug Saunders 2010 einen eigenen Namen gab: Arrival Cities, Ankunftsstädte. Es sind jene speziellen Stadtteile, die die Wanderbewegungen rund um den Globus kreieren. Saunders beschreibt in seinem Buch zahlreiche Stadtteile, beispielsweise West Adams in Los Angeles (USA), Liu Gong Li (China), Tower Hamlets in London (Großbritannien), Santa Marta in Rio de Janeiro (Brasilien), Biswanath in Sylhet (Bangladesch). Sie sind in vielen Punkten sehr unterschiedlich, haben aber Gemeinsamkeiten, die sie zu einem signifikanten Ort der Gegenwart machen, eben zu »Arrival Cities«.
Aufgrund ihrer auszehrenden Lebensbedingungen ziehen Menschen vom Land in die Stadt. Dort finden sie zunächst nur am Rand einen Ort, meist illegal und dort, wo bereits Migrantinnen und Migranten leben. »Die große Wanderungsbewegung manifestiert sich in derSchaffung eines ganz besonderen städtischen Ortes. Diese Übergangsräume – die Ankunftsstädte – sind die Orte, an denen sich der nächste große Wirtschafts- und Kulturboom oder die nächste große Explosion der Gewalt ereignen wird. Was sich letztlich durchsetzt, hängt von unserer Fähigkeit, solche Entwicklungen wahrzunehmen, und von unserer Bereitschaft zum Engagement ab.« (Saunders 2011, 11)
In Arrival Cities werden neue Weichen in die Zukunft gestellt. Es sind entscheidende Orte, obwohl sie nach außen hin wirken, als gebe es hier nur Armut und Elend und überhaupt keine Zukunft. Aber hier kommen Menschen an, die überaus bereit sind, etwas zu bewegen. Sie wollen für sich und für ihre Familien eine Verbesserung der Lebensbedingungen erreichen. Sie wollen die Familien unterstützen, die in ihren Herkunftsdörfern zurückgeblieben sind. Sie wollen die Armut überwinden. Dafür setzen sie rund um die Uhr ihre ganze Arbeitskraft und ihre ganze Kreativität ein. Mit Findigkeit und Durchhaltekraft schaffen sie sich Arbeit mit Produkten, von denen sie selbst herausgefunden haben, dass sie in der Kernstadt gebraucht werden. Und vor allem tun sie das, wovon auch die Weihnachtsgeschichten erzählen: Sie etablieren eine Kultur des Teilens. Arrival Cities leben aus ihren Netzwerken, in denen Lebensmittel und Arbeitschancen sich vermehren, weil man sie miteinander teilt. Wenn Nichten und Neffen aus den Herkunftsdörfern in den Ankunftsstädten eintreffen, werden sie mit offenen Armen empfangen. Der Wohnraum ist eng und überfüllt, aber man rückt noch enger zusammen. Das Essen ist knapp, aber man teilt es. Obwohl sie selbst wenig haben, etablieren die Menschen eine Kultur der Gabe. Sie werden zu Kulturschaffenden, indem sie das wagen, was im Christentum Hingabe genannt wird.
Wenn es den Migranten und Migrantinnen gelingt, ihren Ankunftsort zu einem wirklichen Lebensort zu verwandeln, dann wird aus dem Stadtviertel eine Arrival City, ein überraschender Ort der Geburt. Diese Ankunftsstadt sieht zunächst noch genauso aus wie ein Elendsviertel. Kaum etwas scheint sich hier je zu verändern. Aber das täuscht. In Arrival Cities gibt es eine hohe Fluktuation nach oben, in eine besser gestellte soziale Schicht. Weil aber ständig neue und immer mehr Menschen hinzukommen, fällt der Wegzug nicht auf, wenn man nicht so genau hinschaut. Vielleicht läuft es sogar besonders gut, dann wendet sich das Stadtviertel selbst zum Besseren. Aus dem Elendsviertel wird erst eine Arrival City, die sich allmählich von einem Randviertel zu einer
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