Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
die Theologie ein »Zeichen der Zeit« nennt (vgl. Gruber / Rettenbacher 2013). Sie ist signifikant für das, was in der Gegenwart geschieht. Sie zeichnet unsere Zeit aus, weil etwas Neues geschieht, das die Weichen in die Zukunft hinein umstellt. So wird vielleicht die derzeitige Migration vom Land in die Stadt das enorme Wachstum der Weltbevölkerung aufhalten. Denn Menschen, die in Städten leben, bekommen weniger Kinder als diejenigen auf dem Land. 31 Jedenfalls kennzeichnet die globale Migration quer über alle Landesgrenzen und Meere hinweg unsere Zeit. Wer zu den entscheidenden Fragen der Gegenwart etwas beitragen will, braucht Aufmerksamkeit für dieses Zeichen der Zeit. Auch für die Theologie ist es von besonderer Relevanz. Denn nur mit Blick auf diese Zeichen kann sie selbst entdecken, was das Evangelium – hier speziell die biblische Weihnachtsgeschichte – in den Auseinandersetzungen der Gegenwart zu sagen hat.
Migration verweist auf etwas Unerhörtes, das erhört werden will: die gefährliche Macht der Vulnerabilität. Migration als Zeichen der Zeit ist von ihr gezeichnet. Wo auch immer es um Fragen der Migration geht, da melden sich Wunden und Verwundbarkeiten zu Wort. Dies wiederum birgt ein enormes Konflikt- und Gewaltpotential. Am naheliegenden Beispiel Europas zeigt sich dies überdeutlich. Europa ist eine Staatengemeinschaft, die verpflichtet ist, ihre Bürger und Bürgerinnen zu schützen. Hierzu braucht es Grenzen, Barrikaden und Waffen. Ob es sich um Flüchtlinge, Arbeitsuchende, Drogen- und Menschenhändler oder Terroristen handelt – Menschen, die unbedingt hereinwollen, werden sich durch freundliche Bitten nicht von einer Grenzüberschreitung abhalten lassen. Verschiedene Strategien sind hier denkbar. Die Grenzsicherung kann sich verhalten wie die Herbergsleute, die ihren Lebensort dicht machen, um ihre Ressourcen vor dem Zugriff Anderer zu bewahren. Sie kann wie die Schriftgelehrten und Hohenpriester zum Verrat bereit sein, wenn Diktaturen anderer Länder Unterstützung erbitten und als Preis hierfür die eigenen Grenzen dicht machen. Sie kann Herodes-Strategien aller Art anwenden, die zum Selbstschutz die Verwundung Anderer bewirkt.
Wie prekär die Grenzen hier sind, das zeigen die Debatten um das europäische Schutzsystem »Frontex« (Frontières extérieures), eine Institution, die der Rat der Europäischen Union 2004 gründete. Die »Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union« ist für die Sicherheit der Außengrenzen Europas zuständig. Frontex ist eine politische Macht, die auch mit militärischen Strategien und Mitteln agiert. 32 Die Institution arbeitet eher im Schatten der Öffentlichkeit, das zeigt die Sprache, die sie spricht. Schon ihr Name sagt nicht genau, worum es geht. Gegen Agenturen ist nichts einzuwenden und gegen »operative Zusammenarbeit« schon gar nichts. Das klingt alles ganz harmlos. Aber der Name trifft nur einen Teil der Arbeit wie beispielsweise die grundlegenden Risikoanalysen. Tatsächlich geht es bei dieser Kooperation um Grenzschutz, und dieser hat es nun mal mit Grenzen, Schutzwällen, Barrikaden und leider auch mit Waffen und militärischen Aktionen zu tun.
Auffällig ist, dass die Tätigkeit von Frontex zum einen sehr allgemein und zum andern mit positiv konnotierten Begriffen beschrieben wird. Hier wird von »integriertem Grenzmanagement«, »technischer Unterstützung«, »operativer Kooperation«, »koordinierten Rückführungsaktionen«, »Grenzschutzaktivitäten« gesprochen. 33 Integration, Unterstützung, Rückführung, Aktivität, Kooperation und Koordination – diese Worte verschleiern die Verwundungen, die hier auf dem Spiel stehen. Was genau tut Frontex mit seinen Schiffen, Hubschraubern und »schwerem technischen Gerät«? Über welche Waffen verfügen seine Mitarbeiter und was tun sie damit? 34 Die Wortwahl verschleiert die Gewalt, die durch Verweigerung der Grenzüberschreitung, Einzel- und Massenabschiebungen, Verweigerung von Wasser für (Ver)Durstende oder gar durch Waffengebrauch geschehen kann. Frontex hat große »Erfolge« zu verbuchen 35 . Es ist nicht anzunehmen, dass diese allein mit gutem Zureden erzielt wurden.
An den Außengrenzen Europas kommt es alltäglich zu Zerreißproben der Menschenrechte. Der Übergang von der Strategie der Herbergsleute zu Herodes-Strategien aller Art ist hier fließend. Wenn den Migrantinnen und Migranten, die auf
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