Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
leider hat sich nicht nur die Philosophie, sondern auch die Theologie mehr an Leiden und Tod orientiert, statt Jesu Gebürtigkeit im Licht der Auferstehung zu begreifen. Natürlich gab es auch hier Glanzlichter wie das Zweite Vatikanische Konzil, das einen inkarnatorischen Ansatz vertritt und zur Theologie der Natalität in der Gegenwart beiträgt. »Tatsächlich klärt sich nur im Geheimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahrhaft auf. […] Denn er, der Sohn Gottes, hat sich in seiner Fleischwerdung gewissermaßen mit jedem Menschen vereinigt.« (Pastoralkonstitution GS 22) Auch die frisch ernannte Kirchenlehrerin Hildegard von Bingen (geb. 1098) ist hier erwähnenswert, deren inkarnatorische Theologie eine eigene Metapher kennt für die Gnade, neu geboren zu werden: die Grünkraft, lateinisch »viriditas«. Diese Metapher stammt aus dem Sprachschatz der Schöpfung, die nach jedem noch so harten Winter die Kraft entfaltet, Knospen zu treiben und aus winterlichem Grau ein grünes Blättermeer zu zaubern. Gott hat eine fragile, verletzliche Welt geschaffen. Gott gibt ihr aber auch jene Kraft, die Heilung und damit Neuanfang eröffnet.
Arendt stößt die Theologie auf ein ihr ureigenstes Thema und fordert sie heraus, dieses Thema neu und überraschend, sprechend und handelnd ins Spiel derWelt zu bringen. Dies kann gelingen, wenn die Theologie bei Fragen der Verwundbarkeit ansetzt und den Bogen von der Geburt zur Auferstehung schlägt. Beides ist bei Arendt nicht der Fall. Aber die biblischen Weihnachtsgeschichten sind aus dem Glauben an die Auferstehung Jesu entstanden. Entsprechend leuchten die Weihnachtsgeschichten im Licht der Auferstehung auf, indem diese die Natalität bestätigt und verstärkt: Das Leben steht auf aus dem Tod.
Die Geburt Jesu macht die Natalität der Menschheit zum entscheidenden Thema. Menschen können neu geboren werden, jederzeit. 27 Die Geburt am Anfang eines Lebens weist auf die Fähigkeit der Menschen, mitten aus dem Gewohnten herauszutreten und einen neuen Anfang zu setzen. Natalität ist eine lebenslange, herausfordernde und zugleich beharrliche Gnade. Denn die Möglichkeit, sich dem Akt des Neu-Geborenwerdens zu überlassen und einen neuen Anfang zu setzen, besteht lebenslang. Aber sie will auch ergriffen und im situativen Handeln realisiert werden. Beharrlich ist diese Gnade, weil sie verlockend ist. Sie lässt nicht nach in dem Bestreben, Auswege zu finden, wo Sackgassen drohen; sich zusammenzuschließen, wo Vereinzelung den Ton angibt und politisch erwünscht ist; und wo Missgunst und Resignation herrschen, engagiert sie sich dafür, gezielt Vertrauen zu wagen und Zeichen der Hoffnung zu setzen.
Allerdings hat heute, mehr als fünfzig Jahre nach den Überlegungen Arendts, »die Natalität der Menschheit« noch einen ganz anderen Klang gewonnen. Im Jahr 1950 lebten etwa zweieinhalb Milliarden Menschen auf der Erde. Heute sind es mehr als sieben Milliarden. Als diese Marke im Herbst 2011 erreicht wurde, da war Natalitätgar nicht so positiv in der Debatte. Vielmehr stellten sich bange Fragen. Wie viele dieser vielen Menschen werden an Hunger, Krankheit und Verelendung sterben? Welchen Migrationsdruck wird die wachsende Weltbevölkerung auf Europa ausüben? Wie können Menschen sich schützen vor der Gewaltsamkeit, die in der ungerechten Verteilung globaler Lebensressourcen lauert?
Hier zeigt sich mit globaler Brisanz, dass Natalität mit Verwundbarkeit verbunden ist. Geburten verkörpern eine prekäre Biomacht – das hat der französische Philosoph Michel Foucault zwanzig Jahre nach Arendts »Vita activa« zur Sprache gebracht. 28 Das heißt jedoch nicht, dass eine Theologie der Natalität an ihr Ende gekommen sei, bevor sie richtig begonnen habe. Vielmehr fordert sie dazu heraus, dem Weihnachtsthema der Verwundbarkeit mehr Gewicht zu verleihen in Fragen von Natalität und Hingabe.
Migration – prekäre Verwundbarkeit im Zeichen der Zeit
Nicht erst die Verwundung selbst, sondern allein schon das Wissen um die Tatsache, dass wir verwundbar sind, übt eine unerhörte Macht aus. Die potentielle Gefahr, verwundet zu werden, wirkt sich gravierend auf das Denken und Handeln aus. Das gesamte Versicherungssystem speist sich aus dieser Macht, genauso wie die militärischen Schutzschilde, die Staaten und Staatsverbünde an ihren Grenzen errichten. Einzelne Menschen und Gruppen, Staaten und Religionen befürchten, verwundet zu werden. Und sie tun vieles, um das zu
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