Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
friedliches Leben führen. Auch das wäre möglich. Aber das geschieht nicht. Vielmehr ziehen die vermeintlich Unverwundbaren umso stürmischer und rücksichtsloser in den Kampf, denn sie wähnen sich schuss- und kugelsicher.
Auch in heutigen Auseinandersetzungen um Vulnerabilität ist die Utopie der Unverwundbarkeit am Werk. Menschen träumen von Schutzschilden, die so gut funktionieren, dass sie durch nichts und niemanden mehr durchdrungen werden können. Ein politisches Beispiel hierfür kann man seit 2011 bei den Diktatoren verfolgen, die im »Arabischen Frühling« gestürzt wurden. Das Volk ihres Landes hatte sich schon längst zu nachhaltigem Widerstand formiert. Dennoch waren die Diktatoren überzeugt, dass sie ihre Machtposition halten könnten. Sie hingen der Utopie an, letztlich unverwundbar zu sein. Sie brauchten nicht zurückzutreten, denn sie hatten ausreichend Wächter und Waffen, um sich vor dem Absturz zu schützen. Und sie waren skrupellos bereit, alle verfügbaren Machtmittel einzusetzen. Aber dies funktionierte nicht. Sie wollten sich vor Angriffen sichern, indem sie ihre Wachen verstärkten. Was aber, wenn sich unter den Wachen schon der Aufstand breitgemacht hat? Wenn jemand aufmuckte, wurde er kurzerhand beseitigt. Was aber, wenn ein toter Revolutionär sieben neue, lebendige Widerständler hervorbringt? Damit der Diktator alles weiß, machte er sein Spitzelsystem allgegenwärtig. Was aber, wenn die Spitzel ihm nicht die Wahrheit sagen?
Statt an das Ziel eines sicheren Machtsystems zu kommen, gerieten die Staaten in eine Spirale der Gewalt, die großenteils bis heute anhält. Je mehr Waffen die Diktatoren einsetzten, desto mehr Menschen aus dem eigenen Volk wurden verletzt und desto größer wurde der Widerstand. Je mehr Spitzel und Staatstrojaner sie einsetzten, Lügen verbreiteten und ihre Propaganda verstärkten, desto mehr wollten die Menschen die Wahrheit hören und sprachen sie selbst offen aus. Je mehr und je skrupelloser sich die Diktatoren durch Waffen schützten, Folter einsetzten und eine Allmacht der Angst installierten, desto größer wurde der Mut der Menschen, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Dass Menschen oder Staaten durch Schutzschilde und Waffen unverwundbar werden könnten, ist eine Utopie, die zu unsäglichen Opfern unzähliger Menschen führt. Bei den Diktatoren selbst hat sie dazu geführt, dass sie den Zeitpunkt eines Rücktritts verpasst haben. Utopien sind tückisch. Sie gaukeln etwas vor und erzwingen ein Handeln, das das Gegenteil dessen bewirkt, was sie angeblich erzielen wollen. Wenn Diktaturen zusammenbrechen, hinterlassen sie ein verwüstetes Land. Frühere Lebensorte sind zerstört, und Menschen müssen sich auf den Weg machen, um sich andernorts neue Lebenschancen zu erschließen. So kommt es nach dem Zusammenbruch zu unkalkulierbaren Migrationsströmen.
Diktaturen führen ein Beispiel vor Augen, aber die Herodes-Strategie ist nicht auf politische Herrschaftssysteme beschränkt. 36 Vielmehr wird diese Strategie der Verteidigung in vielen, allzu vielen Lebensbereichen angewandt. Verwundungen tasten das Leben an. Sie konfrontieren mit dem Tod. Das zerstörerische Potential vonWunden greift auf das eigene sowie auf fremdes Leben zu. Aus diesem Grund will man Verwundungen unbedingt vermeiden. Man will nicht angreifbar sein. Das zeigt im Deutschen allein schon der Sprachgebrauch. »Sich angreifbar machen« ist hier nichts Erstrebenswertes. Der Hinweis »Damit machst du dich angreifbar!« weist auf eine Gefahr hin, die man besser vermeiden sollte. Es wird eine Warnung ausgesprochen und ein anderes Verhalten empfohlen. Wer sich angreifbar macht, macht einen Fehler. Stattdessen scheint ein ganz anderes Motto empfehlenswert: »Angriff ist die beste Verteidigung.«
In der Politik ist diese Strategie alltäglich zu beobachten. Aber auch auf dem Arbeitsmarkt wird mit harten Ellbogen und intriganten Praktiken gekämpft. Im Privatleben zeugen blutige Familiendramen davon, wie schnell Menschen in Gewaltspiralen versinken. Um eigene Verwundung zu rächen und neue Wunden zu verhindern, schlägt man zu. Wohl kaum jemand kann von sich behaupten, dies zumindest mit Worten niemals getan zu haben. Auch Mütter sind manchmal bereit, zum Schutz der eigenen, über alles geliebten Kinder gegenüber Dritten gewalttätig zu werden. Die Herodes-Strategie ist weit verbreitet. Sie wurde während der gesamten Menschheitsgeschichte von einzelnen Menschen genauso wie von Religionen,
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