Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
den Boden geworfen und geschlafen, doch alles triefte von Nässe. Er versuchte, sich zusammenzunehmen, denn die Dinge zitterten so seltsam vor seinen Augen. Plötzlich erblickte er ein kleines Haus, das es an dieser Stelle noch nie gegeben hatte, es war vor kurzem erst an den Felsen gebaut, und in der Tür stand ein junges Mädchen, wie er glaubte Schullehrers Annette, die er einmal beim Tanz geküßt. Aber sie war nicht Annette, und doch hatte er sie schon einmal gesehen, vielleicht an jenem Abend in der Nähe von Grindelwald, als er nach dem Schützenfest heimwärts gezogen war.
»Woher kommst du?« fragte er.
»Ich bin hier zu Hause«, sagte sie, »ich hüte meine Herde.«
»Deine Herde, und wo weidet die? Hier gibt es nur Schnee und Felsen.«
»Du kennst dich gut aus«, sagte sie lachend. »Dort hinten, ein bißchen tiefer, ist eine herrliche Weide. Dort sind meine Ziegen. Ich hüte sie gut, nicht eine geht mir verloren. Was mein ist, bleibt mein!«
»Du bist keck!« sagte Rudy.
»Du auch!« entgegnete sie.
»Wenn du Milch hast, dann gib mir zu trinken! Ich bin fast verschmachtet.«
»Ich habe etwas besseres als Milch«, sagte sie, »das sollst du bekommen. Gestern waren hier Reisende mit ihrem Führer, sie haben eine halbe Flasche von einem Wein vergessen, wie du ihn noch nie gekostet hast. Sie werden ihn nicht abholen, ich trinke ihn nicht, trink du ihn!«
Und sie brachte den Wein, goß eine Holzschale davon voll und reichte sie Rudy.
»Der ist gut!« sagte er. »Noch nie habe ich einen so wärmenden, so feurigen Wein getrunken.« Und seine Augen leuchteten, er wurde von einem Leben, einer Glut erfüllt, als sollten alle Sorgen und jeder Druck verfliegen; was sich in ihm regte, war die sprudelnde, frische Menschennatur.
»Aber das ist ja doch Schullehrers Annette!« rief er aus. »Gib mir einen Kuß!«
»Ja, gib mir den hübschen Ring, den du am Finger trägst!«
»Meinen Verlobungsring?«
»Eben den!« sagte das Mädchen, goß Wein in die Schale, setzte sie an seine Lippen, und er trank. Da strömte Lebensfreude in sein Blut, er glaubte die ganze Welt zu besitzen – warum sich plagen? Alles ist zum Genießen da, und um uns glücklich zu machen. Der Strom des Lebens ist ein Strom der Freude, von ihm mitgerissen, von ihm davongetragen zu werden, das ist Glückseligkeit. Er betrachtete das junge Mädchen: es war Annette und doch nicht Annette und noch weniger jenes Trollphantom, wie er es nannte, das ihm bei Grindelwald begegnet war. Das Mädchen hier auf dem Berg war frisch wie Neuschnee, schwellend wie eine Alpenrose und leicht wie ein Kitz – doch allemal geschaffen aus Adams Rippe, ein Mensch wie er selbst. Und er umschlang sie mit seinen Armen und sah ihr in die seltsamen klaren Augen, ganz kurz nur, doch in dieser einen Sekunde – ja, erklär es, erzähl es, faß es in Worte – war es das Leben des Geistes oder des Todes, was ihn erfüllte; trug es ihn oder sank er hinab? – in den tiefen, tödlichen Eisschlund, tiefer, immer tiefer. Er sah Eiswände wie aus graugrünem Glas, ringsum gähnten unendliche Klüfte, und das Wasser, das mit dem Klang eines Glockenspiels tropfte, war perlenklar, leuchtend in blauweißen Flammen. Die Eisjungfrau gab ihm einen Kuß, daß es ihn eiskalt von den Rückenwirbeln bis in die Stirn durchrieselte. Er stieß einen Schmerzensschrei aus, riß sich los, taumelte und fiel, es wurde Nacht vor seinen Augen, doch er öffnete sie wieder. Böse Mächte hatten ihr Spiel getrieben.
Verschwunden war das Alpenmädchen, verschwunden die bergende Hütte, Wasser strömte von der nackten Felsenwand, ringsum lag Schnee. Rudy zitterte vor Kälte, war durchgeweicht bis auf die Haut, und sein Ring war verschwunden, der Verlobungsring, den ihm Babette gegeben. Das Gewehr lag neben ihm im Schnee; er griff danach und wollte es abschießen, doch es versagte. Die Schlucht war von nassen Wolken wie von festen Schneemassen ausgefüllt, da saß der Schwindel und lauerte auf seine kraftlose Beute, und aus der tiefen Kluft darunter kam ein Geräusch, als ob ein Felsenblock fiele und alles zermalmte und mit sich risse, was ihn in seinem Fall aufhalten wollte.
Doch in der Mühle weinte Babette: schon sechs Tage war Rudy nicht hier gewesen; wo er doch im Unrecht war, wo er sie doch um Verzeihung bitten müßte, denn sie liebte ihn von ganzem Herzen.
XIII. Im Haus des Müllers
W as machen die Menschen bloß für Geschichten!« sagte die Stubenkatze zur Küchenkatze. »Jetzt ist es
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