Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
Augen, je mehr sich sein Blick verfinsterte. Sie hätte den blonden Engländer mit den vergoldeten Koteletten küssen mögen, nur um zu erreichen, daß Rudy wütend das Weite suchte – eben daran hätte sie gesehen, wie sehr er sie liebte. Das war von der kleinen Babette weder recht noch klug, doch sie war ja nicht älter als neunzehn Jahre. Sie machte sich keine Gedanken darüber, und noch weniger dachte sie darüber nach, wie der junge Engländer ihr Betragen auslegen könnte – lustiger und leichtfertiger, als es sich für die ehrbare, frischverlobte Müllerstochter just schickte.
Wo die Landstraße von Bex am Fuße einer schneebedeckten Felsengruppe, in der Landessprache Les Diablerets genannt, entlang verläuft, war ein reißender Gebirgsbach zu sehen, der weißgrau wie schäumendes Seifenwasser war. Die Mühle lag nicht weit davon entfernt, wurde jedoch von einem kleineren Fluß angetrieben, der jenseits des Bergstroms vom Felsen stürzte. Er wurde unterhalb des Wegs von einem Steinwall aufgestaut, um sich durch eigene Kraft und Geschwindigkeit zu heben und dann in einem geschlossenen Bassin aus Balken, einer breiten Rinne, den reißenden Strom zu überqueren und das große Mühlenrad zu drehen. Diese Rinne enthielt soviel Wasser, daß sie überlief, und wem es einfallen konnte, sich an dieser Stelle den Weg zur Mühle abzukürzen, der ging auf nassem, schlüpfrigem Grund. Einen solchen Einfall hatte ein junger Mann, der Engländer, der sich, weißgekleidet wie ein Müllergeselle, in der Abendstunde ans Klettern machte und sich von dem Licht aus Babettes Kammer leiten ließ. Klettern hatte er nicht gelernt, und beinah wäre er kopfüber in den Fluß gestürzt, doch er kam mit nassen Ärmeln und bespritzten Hosen davon und langte pudelnaß und besudelt unter Babettes Fenstern an. Dann erklomm er eine alte Linde und ahmte die Eule nach – das war der einzige Vogel, den er nachahmen konnte. Das hörte Babette und guckte durch die dünnen Gardinen hinaus. Als sie aber den weißen Mann erblickte und sich wohl denken konnte, wer es war, da begann ihr kleines Herz vor Schreck, doch auch vor Zorn zu klopfen. Sie löschte in aller Eile das Licht, überprüfte sämtliche Fensterkrampen, und dann ließ sie ihn heulen und jammern.
Wenn nun Rudy in der Mühle gewesen wäre, das wäre entsetzlich gewesen. Aber Rudy war nicht in der Mühle, nein, viel schlimmer noch, er stand direkt davor. Da fielen laute, zornige Worte; es sah nach Schlägerei, sogar nach Totschlag aus.
Erschrocken öffnete Babette das Fenster, rief Rudy bei Namen und forderte ihn zum Gehen auf. Sie dulde ihn nicht hier, sagte sie.
»Du duldest mich nicht hier!« rief Rudy aus. »Es gibt also eine Verabredung! Du erwartest gute Freunde, bessere als mich. Schäm dich, Babette!«
»Du bist abscheulich!« sagte Babette. »Ich hasse dich!« Und dann brach sie in Tränen aus. »Geh! Geh!«
»Das habe ich nicht verdient!« sagte er, und er ging, seine Wangen brannten wie Feuer, sein Herz war wie Feuer.
Babette warf sich aufs Bett und weinte.
»Und ich liebe dich so sehr, Rudy! Wie kannst du nur Schlechtes von mir denken!«
Sie war wütend, sehr wütend, und das war gut für sie; denn sonst wäre sie tief betrübt gewesen. Nun konnte sie in Schlaf fallen, in den stärkenden Schlaf der Jugend.
XII. Böse Mächte
R udy verließ Bex, machte sich an den Heimweg, stieg auf die Berge, in die frische, kühlende Luft, wo der Schnee lag, wo die Eisjungfrau herrschte. Die Laubbäume tief unter ihm glichen Kartoffelkraut, Tannen und Büsche wurden kleiner, Alpenrosen wuchsen neben Flecken von Schnee, die aussahen wie Leinen auf der Bleiche. Ein blauer Enzian, der dort stand, wurde von Rudys Gewehrkolben zerschmettert.
Als er etwas höher zwei Gemsen erblickte, bekamen seine Augen Glanz, seine Gedanken neuen Schwung; doch für einen sicheren Schuß war er nicht nah genug. Er kletterte weiter, bis nur noch hartes Gras zwischen den Steinblöcken wuchs, und spornte seinen Eifer an, während die Gemsen ruhig über das Schneefeld liefen. Dann senkten sich Wolkennebel um ihn herab, plötzlich stand er vor einer steilen Felsenwand, und der Regen begann zu strömen.
Er spürte brennenden Durst, Hitze im Kopf, Kälte in allen Gliedern, und als er nach seiner Jagdflasche griff, war sie leer – daran hatte er nicht gedacht, als er die Berge hinaufgestürmt war. Nie im Leben war er krank gewesen, jetzt aber fühlte er sich so. Vor Müdigkeit hätte er sich am liebsten auf
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