Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
Angst.
Endlich entschlossen sie sich zur Flucht. »Ich kenne einen sichern Ort«, sagte Orm, »wo wir unentdeckt so lange verweilen können, bis wir Gelegenheit finden, das Land zu verlassen.« In der Nacht, als alles eingeschlafen war, führte Orm die zitternde Aslaug über Schnee- und Eisfelder hinaus in das Gebirge. Der Mond leuchtete ihnen auf dem Weg und die Sterne, die in der kalten Winternacht noch glänzender funkelten. Sie hatten ein paar Kleidungsstücke und Tierfelle unter den Armen, mehr konnten sie nicht tragen. Sie stiegen die ganze Nacht, bis sie zu einem einsamen, von hohen Felsenblöcken eingeschlossenen Platz gelangten. Hier leitete Orm die müde Aslaug zu einer Höhle, deren Eingang kaum bemerkbar, eng und niedrig war, die sich aber bald zu einer großen, tief in den Berg hineinreichenden Halle erweiterte. Er zündete Feuer an, und auf den Tierfellen ruhend, saßen sie in der tiefsten Einsamkeit, fern von aller Welt.
Orm hatte diese Höhle, die man noch heutzutage zeigt, zuerst entdeckt, und da niemand davon wußte, so waren sie vor den Nachforschungen ihres Vaters völlig gesichert. Sie brachten den ganzen Winter in dieser Abgeschiedenheit zu. Orm ging auf die Jagd, und Aslaug saß daheim in der Höhle, unterhielt das Feuer und bereitete die nötige Speise. Manchmal stieg sie auf die Felsenspitzen, aber ihr Auge schweifte, so weit es reichen konnte, nur über glänzende Schneefelder.
Der Frühling brach an, der Wald ward grün, die Wiesen färbten sich, und Aslaug durfte nur selten und vorsichtig die Höhle verlassen. Eines Abends kam Orm mit der Nachricht, daß er die Diener ihres Vaters in der Ferne erkannt habe und er ihren Augen, ohne Zweifel ebenso scharf als die seinigen, schwerlich unbemerkt geblieben sei. »Sie werden diese Gegend umringen«, sagte er, »und nicht ruhen, bis sie uns gefunden haben, ohne Zaudern müssen wir unsern Zufluchtsort verlassen.« Sie stiegen an der andern Seite des Gebirgs hinab und erreichten den Strand, wo sie glücklicherweise ein Boot fanden. Orm stieß ab, und das Schiff trieb in das offene Meer. Sie waren den Verfolgern entronnen, aber anderm Unglück preisgegeben. Wo sollten sie sich hinwenden? Landen durften sie nirgends; denn überall war Aslaugs Vater Herr der Küste, und sie wären unfehlbar in seine Hände gefallen. Es blieb nichts übrig, als das Schiff den Winden und Wellen zu überlassen. Sie trieben die ganze Nacht fort. Wie der Tag anbrach, war die Küste verschwunden, sie sahen nichts als den Himmel oben, das Meer unten, und die auf- und absteigenden Wellen. Sie hatten keinen Bissen Nahrung mitgenommen, und Hunger und Durst fingen an, sie zu quälen. Drei Tage schwebten sie in dieser Not, und Aslaugs Ermattung war so groß, daß sie den gewissen Tod vor sich zu sehen glaubte.
Am Abend des dritten Tages entdeckten sie endlich eine Insel von ziemlicher Größe, sie war von einer Anzahl kleiner umringt. Orm steuerte sogleich darauf hin, doch, als er ziemlich nahe gekommen war, erhob sich plötzlich ein heftiger Sturmwind, und die Wellen wälzten sich immer höher entgegen. Er kehrte um, in der Absicht, von einer andern Seite sich zu nähern, aber es gelang nicht besser, sein Schiff wurde, sooft es herankam, wie von einer unsichtbaren Gewalt zurückgeschleudert. »Herr Gott!« rief er, und segnete sich und blickte auf die arme Aslaug, die vor seinen Augen zu verschmachten schien. Kaum aber war der Ausruf über seine Lippen gekommen, so hörte der Sturm auf, die Wellen legten sich, und das Schiff landete ungehindert. Orm sprang ans Ufer, und einige Muscheln, die er auf dem Strand suchte, stärkten und erquickten die arme Aslaug, so daß sie bald imstande war, das Boot zu verlassen.
Die Insel war mit niedrigem Buschwerk bewachsen und schien unbewohnt, doch, als sie bis gegen die Mitte gekommen waren, entdeckten sie ein Haus, das nur halb über die Erde emporragte und halb unter der Erde zu stehen schien. In der Hoffnung, Menschen und Beistand zu finden, gingen sie näher. Sie horchten, ob sie einen Laut vernähmen, aber es herrschte das vollkommenste Schweigen. Orm öffnete endlich die Türe und sie traten ein, aber wie erstaunten sie, als sie alles zum Bewohnen völlig eingerichtet sahen, gleichwohl aber kein lebendes Wesen erblickten. Das Feuer brannte auf dem Herde, mitten in der Stube, und ein Kessel mit Fischen hing daran, der nur darauf zu warten schien, abgehoben und verzehrt zu werden. Die Betten waren gemacht und bereit, die Ermüdeten zu
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