Weihnachten - Gedichte und Geschichten: Eine Weihnachtsgeschichte, Nußknacker und Mausekönig, Der Schneemann, Die Eisjungfrau, Schneeweißchen und Rosenrot, ... denkwürdige Neujahrnacht (German Edition)
seinen guten Lebensabend haben. Mit Fremden ließ er sich nicht mehr ein, und deshalb wollte er sich von Rudy nicht streicheln lassen, denn der war ihm noch fremd. Aber es dauerte gar nicht lange, da schlug der Junge Wurzeln in Haus und Herz.
»In unserm Kanton Wallis ist es gar nicht schlecht«, sagte der Onkel. »Wir haben Gemsen, die sterben nicht so bald aus wie die Steinböcke. Uns geht es viel besser als in alter Zeit; man mag noch so viele Loblieder auf sie singen, unsre Zeit ist doch besser. Der zugeschnürte Sack ist aufgegangen, in unser eingeschlossenes Tal ist frische Luft gekommen. Wenn das Veraltete verschwindet, kommt immer etwas Besseres zum Vorschein«, sagte er. Und wenn der Onkel so recht ins Reden kam, erzählte er von seinen Kindheitsjahren, als sein Vater im besten Mannesalter war. Damals war das Wallis ein zugeschnürter Sack, wie er sagte, mit viel zu vielen kranken Leuten, jämmerlichen Kretins. »Dann aber sind die französischen Soldaten gekommen, das waren die rechten Doktoren; sie schlugen sofort die Krankheit tot und die Leute dazu. Schlagen können die Franzosen, einen Hieb führen auf vielerlei Weise, und das können ihre Mädchen auch!« Und dabei lachte der Onkel und nickte seiner Frau zu, die eine gebürtige Französin war. »Die Franzosen können auf die Steine schlagen, bis sie nachgeben. Sie haben die Simplonstraße in den Fels geschlagen und einen Weg gebahnt, daß ich jetzt zu einem dreijährigen Kind sagen kann: Geh mal nach Italien, halte dich nur an die Landstraße! Und das Kleine findet nach Italien, wenn es sich nur an die Landstraße hält.« Und dann sang der Onkel ein französisches Lied und rief hurra auf Napoleon Bonaparte.
Da hörte Rudy zum ersten Mal von Frankreich, von Lyon, der großen Stadt an der Rhône, wo der Onkel gewesen war.
In ein paar Jahren könne aus Rudy ein flinker Gemsenjäger werden, begabt dafür sei er, sagte der Onkel. Und er zeigte ihm, wie man die Flinte hält, wie man zielt und abdrückt. Wenn Jagdzeit war, nahm er ihn mit in die Berge, ließ ihn vom warmen Gemsenblut trinken, das den Jäger vor dem Schwindel bewahrt. Er lehrte ihn, wie man den Zeitpunkt erkennt, wann von den verschiedenen Berghängen Lawinen drohen, um die Mittags- oder zur Abendzeit, je nach der Wirkung der Sonne und ihrer Strahlen. Rudy lernte von ihm, recht auf die Gemsen achtzugeben und ihren Sprung nachzuahmen, auf die Füße zu fallen und Halt zu finden, und wenn ihn der Fuß in der Felsenkluft nicht finden konnte, dann mußte man sich mit den Ellbogen stützen, mußte sich mit den Muskeln von Waden und Schenkeln festklammern, selbst der Nacken konnte sich festbeißen, wenn es notwendig war. Die Gemsen waren klug und stellten ihre Vorposten auf; doch der Jäger mußte klüger sein und ihren Geruchssinn überlisten. Er konnte sie auch zum Narren halten: Wenn er Rock und Hut auf den Alpenstock hängte, hielt die Gemse das Kleid für den Mann. Diesen Spaß trieb der Onkel eines Tages, als er mit Rudy auf der Jagd war.
Der Gebirgspfad war schmal, ja, fast gar nicht vorhanden, ein schmales Gesims nur, dicht am schwindelnden Abgrund. Der Schnee darüber war halbgetaut, das Gestein zerbröckelte unter den Füßen, weshalb sich der Onkel längelang auf den Boden warf und sich kriechend vorwärtsbewegte. Jeder Stein, der abbrach, fiel, prallte ab, hüpfte und rollte weiter, er machte viele Sprünge von Felsenwand zu Felsenwand, bis er in der schwarzen Tiefe zur Ruhe kam. Rudy, der einhundert Schritte dahinter auf dem äußersten festen Felsenvorsprung stand, sah in der Luft etwas näherkommen und den Onkel schwebend umkreisen. Es war ein riesiger Lämmergeier, der mit seinem Flügelschlag den kriechenden Wurm in den Abgrund stürzen und zu Aas verwandeln wollte. Während der Onkel nur auf die Gemse starrte, die sich mit ihrem Jungen jenseits der Kluft befand, behielt Rudy den Vogel im Auge, begriff, was er wollte, und hatte deshalb den Finger am Abzug. Da machte die Gemse einen Satz, der Onkel schoß und traf sie mit seiner tödlichen Kugel; doch das Junge jagte davon, als hätte es sein ganzes Leben Flucht und Gefahr erprobt. Beim Knall der Flinte erschrak der riesige Vogel und flog in eine andere Richtung; der Onkel wußte nichts von der Gefahr, bis ihm Rudy davon erzählte.
Als sie nun in bester Stimmung heimwärts zogen, wobei der Onkel ein Lied aus seiner Kinderzeit pfiff, hörten sie plötzlich, gar nicht weit weg, ein merkwürdiges Geräusch. Sie schauten nach allen
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