Weihnachten mit Maigret
nicht. Sie haben sie gesehen. Sie kennen sich besser damit aus als ich. Sie benimmt sich nicht so wie eine Frau. Sehen Sie, ich wette, dass sie noch nie in ihrem Leben geweint hat. Sie erzieht die Kleine recht anständig, das ist richtig. Aber sie würde ihr nie ein liebes Wort sagen, und wenn ich Colette Märchen erzählen möchte, merke ich, dass sie sich darüber aufregt. Ich bin sicher, sie hat ihr gesagt, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt. Glücklicherweise glaubt ihr das Kind nicht.«
»Sie mag sie auch nicht?«
»Sie gehorcht ihr und gibt sich Mühe, ihr Freude zu machen. Ich glaube, sie ist froh, wenn sie alleine gelassen wird.«
»Geht Madame Martin oft weg?«
»Nicht oft. Man kann ihr nichts vorwerfen. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Man merkt, dass sie ihr eigenes Leben lebt, verstehen Sie? Sie kümmert sich nicht um andere. Sie spricht auch nie von sich. Sie benimmt sich korrekt, immer korrekt, schon zu korrekt. Sie hätte ihr Leben in einem Büro verbringen sollen, wo sie es mit Zahlen oder mit der Beaufsichtigung von Angestellten zu tun gehabt hätte.«
»Ist das auch die Meinung der anderen Mieter?«
»Sie nimmt so selten am Leben der Hausgemeinschaft teil. Sie sagt nur so eben >Guten Tag<, wenn sie jemandem auf der Treppe begegnet. Kurz und gut, wir kennen sie erst etwas besser, seit Colette bei ihr wohnt, da man sich ja für ein Kind immer etwas mehr interessiert.«
»Sind Sie ihrem Schwager schon einmal begegnet?«
»Im Flur. Ich habe nie mit ihm gesprochen. Er geht mit gesenktem Kopf an einem vorbei, als schäme er sich, und man hat immer den Eindruck, dass er in seinen Kleidern geschlafen hat, obwohl er sich wohl bemüht, sie auszubürsten, bevor er hierher kommt. Ich glaube nicht, dass er es gewesen ist, Monsieur Maigret. Er ist nicht der Mann, der so etwas tut. Oder er hätte schon ganz und gar betrunken sein müssen.«
Maigret ging noch kurz bei der Concierge vorbei, wo es so dunkel war, dass den ganzen Tag über das Licht brennen musste. Es war gegen Mittag, als er den Boulevard überquerte, und in den Fenstern des Hauses, das er verlassen hatte, bewegten sich sämtliche Gardinen. Auch an seinem Fenster bewegte sich die Gardine. Madame Maigret hielt nach ihm Ausschau, um zu wissen, ob sie das Hühnchen in den Ofen tun konnte. Er winkte ihr von unten zu. Fast hätte er die Zunge herausgestreckt, um eine dieser kleinen Schneeflocken zu erhaschen, die in der Luft trieben und an deren wässrigen Geschmack er sich noch erinnerte.
3
»Ich frage mich, ob die Kleine drüben glücklich ist«, seufzte Madame Maigret, indem sie vom Tisch aufstand, um den Kaffee aus der Küche zu holen.
Sie merkte wohl, dass er ihr nicht zuhörte. Er hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und stopfte seine Pfeife, während er den leise summenden Ofen mit den kleinen, regelmäßigen Flammen, die am Sichtfenster leckten, betrachtete.
Zur eigenen Genugtuung fügte Madame Maigret hinzu:
»Ich kann es mir nicht vorstellen, bei dieser Frau.«
Er lächelte ihr zerstreut zu, so als wüsste er nicht, was sie gesagt hatte, und vertiefte sich dann wieder in die Betrachtung des Ofens. Es gab mindestens zehn ähnliche Öfen im Haus, die genauso summten, zehn Esszimmer mit demselben Sonntagsgeruch, und wahrscheinlich war es in dem Haus gegenüber ebenso. Jedes Nest enthielt sein träges Leben, das sich im Verborgenen abspielte, mit Wein auf dem Tisch, Kuchen, mit der kleinen Likörflasche im Büfett, und alle Fenster ließen das graue, harte Licht eines sonnenlosen Tages herein.
Vielleicht war es das, was ihn unbewusst seit dem Morgen verwirrte. In neun von zehn Fällen führte ihn eine richtige Untersuchung von einer Stunde zur anderen in eine neue Umgebung, und er musste sich mit Leuten auseinandersetzen, deren Welt er gar nicht oder nur wenig kannte, musste alles kennenlernen, bis hin zu den kleinsten Angewohnheiten und den Schrullen einer sozialen Schicht, in der er sich nicht auskannte.
In diesem Fall, der keiner war, da er ja offiziell mit nichts beauftragt worden war, lagen die Dinge ganz anders. Zum ersten Mal passierte etwas in einer ihm bekannten Welt, in einem Haus, das sein eigenes hätte sein können.
Die Martins hätten auf seinem Flur wohnen können statt in dem Haus gegenüber, und wahrscheinlich hätte Madame Maigret auf Colette aufgepasst, während ihre Tante abwesend war. Im Stockwerk über ihm wohnte eine alte Dame, die fast das Ebenbild von Mademoiselle Doncœur war, nur dicker und blasser
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