Weihnachten mit Maigret
weiter?«
»Einen Augenblick. Daran habe ich nicht gedacht.«
Durch die Badezimmertür hindurch erkundigte er sich bei Martin nach dem Mädchennamen seiner Schwägerin.
»Boitel!« rief dieser ihm zu.
»Lucas? Es handelt sich um Loraine Boitel. Die Wirtin der Pension war Trauzeugin bei ihrer Hochzeit mit Martin. Loraine Boitel arbeitete zu der Zeit bei Lorilleux.«
»Der vom Palais-Royal?«
»Ja. Ich möchte wissen, ob sie ein Verhältnis miteinander hatten und ob er sie manchmal im Hotel besuchte. Das ist alles. Beeil dich. Es ist vielleicht dringender, als wir meinen. Was wolltest du mir noch sagen?«
»Es betrifft den Fall Lorilleux. Er war ein merkwürdiger Mensch. Nach seinem Verschwinden hat man Nachforschungen angestellt. In der Rue Mazarine, wo er mit seiner Familie wohnte, galt er als ein ruhiger Kaufmann, der seine drei Kinder vorbildlich erzog. In seinem Geschäft im Palais-Royal geschahen seltsame Dinge. Er verkaufte nicht nur Andenken von Paris und alte Münzen, sondern auch obszöne Bücher und Bilder.«
»Das ist eine Spezialität dort.«
»Ja. Es ist sogar nicht unbedingt sicher, dass sich dort nicht noch andere Dinge abgespielt haben. Es war die Rede von einer breiten Couch mit rotem Rips, die in dem Büro hinter dem Laden stand. Es gab keine Beweise, und man hat die Sache nicht weiter verfolgt, umso weniger, da man der Kundschaft, die zum großen Teil aus mehr oder weniger bedeutenden Personen bestand, keine Unannehmlichkeiten bereiten wollte.«
»Und Loraine Boitel?«
»Von ihr ist in dem Bericht kaum die Rede. Als Lorilleux verschwand, war sie bereits verheiratet. Sie wartete den ganzen Morgen über an der Ladentür. Es sieht nicht so aus, als hätte sie ihn am Vorabend nach Ladenschluss noch gesehen. Ich wollte gerade in dieser Angelegenheit telefonieren, als Langlois von der Finanzabteilung in mein Büro kam. Beim Namen Lorilleux wurde er hellhörig. Er sagte, er erinnere sich an etwas, und ging weg, um in seinen Akten nachzusehen. Sind Sie noch dran? Es ist nichts Bestimmtes. Nur, dass Lorilleux damals in den Akten geführt wurde, weil er häufig die Schweizer Grenze überschritt. Das war in der Zeit, als das Goldgeschäft blühte. Man behielt ihn im Auge. Er wurde zwei- oder dreimal an der Grenze durchsucht, ohne dass man etwas bei ihm finden konnte.«
»Geh schnell in die Rue Pernelle, mein lieber Lucas. Ich glaube mehr denn je, dass es eilig ist.«
Paul Martin stand mit glattrasiertem Kinn im Türrahmen.
»Ich bin ganz durcheinander. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Sie gehen jetzt zu Ihrer Tochter, nicht wahr? Ich weiß nicht, wie lange Sie gewöhnlich bei ihr bleiben und wie Sie an die Sache herangehen. Was ich möchte, ist, dass Sie nicht von ihrer Seite weichen, bis dass ich Sie wieder abhole.«
»Aber über Nacht werde ich wohl nicht bleiben können?«
»Tun sie das, wenn es sein muss. Richten Sie es irgendwie ein.«
»Besteht eine Gefahr?«
»Ich weiß es nicht, aber Ihr Platz ist bei Colette.«
Der Mann trank gierig seine Tasse Kaffee und ging dann ins Treppenhaus. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, kam Madame Maigret ins Esszimmer.
»Er kann seine Tochter am Weihnachtstag nicht mit leeren Händen besuchen.«
»Aber...«
Maigret wollte wohl gerade antworten, dass sich hier im Hause keine Puppe befände, als sie ihm einen kleinen glänzenden Gegenstand reichte, einen goldenen Fingerhut, der seit Jahren in ihrem Nähkasten lag und den sie nie gebrauchte.
»Gib ihm das. So etwas gefällt einem kleinen Mädchen immer. Beeil dich...«
Er rief von oben durch das Treppenhaus:
»Monsieur Martin!... Monsieur Martin! ... Einen Augenblick, bitte!«
Er drückte ihm den Fingerhut in die Hand.
»Sagen Sie ihr vor allem nicht, woher Sie ihn haben.«
Maigret blieb auf der Schwelle zum Esszimmer stehen und seufzte dann mürrisch:
»Wann wirst du endlich damit aufhören, mich zum Weihnachtsmann zu machen!«
»Ich wette, das wird ihr genauso gut gefallen wie die Puppe. Das ist nämlich ein Gegenstand für Erwachsene, verstehst du?«
Man sah, wie Martin den Boulevard überquerte, einen Augenblick vor dem Haus stehenblieb, sich zu den Fenstern von Maigrets Wohnung umdrehte, als wollte er sich Mut machen.
»Glaubst du, dass er wieder gesund wird?«
»Ich zweifle daran.«
»Wenn dieser Frau, dieser Madame Martin, etwas zustieße...«
»Ja?«
»Nichts. Ich denke an die Kleine. Ich frage mich, was aus ihr würde.«
Mindestens zehn Minuten
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