Weil du fehlst (German Edition)
und zog mich bereits mit sich. Es war Mittagspause, und Darius erklärte mir eindringlich, er habe mir da etwas näher zu erklären und dafür gebe es keinen idealeren Ort als den zukünftigen Darius-und-Kassandra-Geheimtreffpunkt der besonderen Art.
Ich verstand kein Wort, aber weil ich die Wildnis mochte, ließ ich mich mitziehen. Unterwegs sah ich unsere Nachbarin Zelda, die alleine im Gang vor den Matheräumen stand und nichts tat, als alleine zu sein und Deprimiertheit auszustrahlen. Bestimmt war sie bedrückt, weil Oya in der letzten Zeit so oft mit Brendan zusammensteckte.
Wir verließen das Schulgrundstück und begaben uns auf den ausgetretenen Schlängelweg, der direkt in die McKinley-Wildnis hineinführte. Schon schlug uns harzige, kalte Winterluft entgegen. Hier draußen war es windiger als auf dem Schulgelände. Ich fror, und sofort schlüpfte Darius ritterlich aus seiner Jacke und reichte sie mir.
»Aber dann frierst du doch«, wandte ich ein, schließlich hatte ich ja selbst eine Jacke an, aber Darius winkte nur ab. »Mit Kälte und Wärme ist es wie mit Honig und Bienen«, sagte er grinsend. »Alles eine Frage der Einstellung und der Hormone, verstehst du?«
»Honig und Bienen und Hormone?«, wiederholte ich verwundert.
Darius nickte weise. »Ja, Mädchen essen Honig und Männer kauen Bienen. Das hat mein Großvater früher immer gesagt. Und er wusste, wovon er sprach, er war Hobby-Imker.«
»Iii«, machte ich zu diesem Vergleich und verzog das Gesicht.
»Was hast du?«, fragte Darius verwirrt.
»Nichts, wieso? Ich fand nur gruselig, was du gesagt hast«, erklärte ich und schlüpfte nun doch in Darius‘ Jacke, die nach ihm und seinem Aftershave roch. Gut also. Als kleines Kind hatte ich mal Bienen mit Raymond und Oya beobachtet, daran konnte ich mich verschwommen erinnern. Das emsige Hin-und Herfliegen der Bienen, ihr enges Einflugloch ins Bienennest, das Gedrängel dort.
»Nein, du bist ganz blass geworden, als ich das mit den Bienen gesagt habe«, beharrte Darius.
»Blödsinn«, sagte ich.
»Okay, Blödsinn«, wiederholte Darius fröhlich, und dann zeigte er mir den schönsten Platz der gesamten McKinley-Wildnis.
Der schönste Platz der McKinley-Wildnis :
Um hinzugelangen, steuerten wir zuerst den alten McKinley-Steinbruch an und überquerten dann die Lichtung, auf der die steinernen Skulpturen von Oyas Bildhauereikurs allmählich Gestalt annahmen. Welche von den steinernen Gebilden wohl Oyas zukünftige Glücksskulptur war?
»Komm, weiter«, drängte Darius, als ich stehen blieb. »Oder willst du hier festwachsen?«
In einiger Entfernung stiegen krächzend einige der Wildnis-Krähen zum Himmel auf und sahen in der Ferne wie dunkles Laub aus, das vom Herbstwind erfasst und in die Höhe geschleudert wird. Schön, aber auch unheimlich.
»Kassandra!«, rief Darius ungeduldig.
Wir kletterten einen steinigen Abhang hinauf, Seite an Seite, und ich kam außer Atem. Darius, der viel Sport trieb, kein bisschen.
»Sag ich doch: Mädchen essen Honig, Männer kauen Bienen«, wiederholte Darius selbstgefällig und grinste wieder.
Schließlich standen wir vor einem halbhohen Fels, der bedeckt war von einer riesigen graugrünen Farnstaude, die trotz der Jahreszeit noch nicht verblüht war und wie ein grüner Vorhang von oben herabhing.
»Winterfarn. Winterfarn in Massen«, erklärte Darius. »Und jetzt pass mal auf.«
Behutsam schob er den Farnwedel zur Seite und deutete auf das, was dahinter war. Es war eine Höhle, hintereinander gingen wir durch die herabhängenden Farnwedel hindurch, in der dämmriges Licht herrschte. Der Boden war mit warmem, trockenem Moos bedeckt. An der Seite der niedrigen Höhle lief ein schmaler Felsvorsprung entlang, ideal zum Verstauen von Kleinigkeiten.
Darius‘ Kleinigkeiten : Ein paar Bücher und Zeitschriften, ein MP3-Player mit einem Paar billigen Taschenlautsprechern, eine angebrannte Garfield-Kerze, ein Feuerzeug, Chipstüten, eine angebrochene Packung Doughnuts, eine Schachtel Kellog’s Honey Loops, ein Basketballkorb im Spielzeugformat mit kleinen Plastikbällen, außerdem noch dies und das.
»Okay, da wären wir«, sagte Darius, ließ sich auf dem grünen Boden nieder und deutete mit einer einladenden Geste neben sich.
Ich setzte mich ebenfalls und sah mich dabei immer noch staunend um.
»Und, gefällt’s dir?«, fragte Darius.
Ich nickte.
»Im Sommer binde ich manchmal die Farnwedel etwas zusammen, dann kommt Licht herein«, erklärte Darius.
Weitere Kostenlose Bücher