Weil du fehlst (German Edition)
der Luft, helle Parkettböden, etwas spartanisch alles, aber mit viel Liebe eingerichtet, das war nicht zu übersehen. Der Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich an einer Wand. Außerdem eine Menge abstrakte Picasso-Bilder.)
AMANDA: Soll ich vielleicht noch mal für die Nacht lüften, was meinst du?
Meine Großmutter öffnete, ohne meine Antwort abzuwarten, eines der vielen kleinen Verandafensterchen, und sofort füllte sich der Raum mit einem wilden Geruch nach Salz, Meer, Seetang.
Einen Moment hatte ich die wahnsinnige Vision, wieder auf Stromboli zu sein. So hatte es dort auch gerochen. Das Meer musste ganz nah sein.
AMANDA: Du musst übrigens nur zur Tür hinaustreten und dann am Giebel des Hauses eine kleine Treppe hinuntersteigen, schon bist du am Wasser. Morgen früh zeige ich dir alles. Im Sommer ist es natürlich noch schöner. Wenn Ebbe ist, haben wir einen richtigen Strand, nur für uns alleine.
Wieder lächelte sie mir zu, ein bisschen traurig, wie es schien.
AMANDA: Hier hättet ihr schön die Sommer eurer Kinderzeit verbringen können. Aber es sollte wohl nicht so sein. Das Schicksal, oder eher Rabea – eure Mom –, wollte es eben anders … Und so ist es eben anders gekommen.
Ihre Stimme klang auf einmal eine Spur bitter.
Schicksal : Fortuna, Nornen, Tyche, Moiren, Parzen, Namtaru. Schicksalsgottheiten. Das Schicksal: eine höhere Macht, Inbegriff unpersönlicher Mächte. Oder: in der christlichen Theologie wird anstelle der Vorstellung des Schicksals das Konzept der göttlichen Vorsehung bevorzugt.
Aha. Okay.
Aber nach und nach lichtete sich der Nebel.
Am anderen Morgen standen wir Seite an Seite am Meer und schauten in die Ferne. Die Luft schmeckte salzig, kalt, frühmorgenfrisch.
»Da ist etwas, Amanda, aber ich weiß nicht was. Irgendetwas an meinem Leben … stimmt nicht. Ich weiß, das klingt verrückt, aber ich bin mir sicher. Inzwischen. Ich habe lange darüber nachgedacht.«
Meine Großeltern schienen diesen wunderbaren Ort tatsächlich ganz für sich alleine zu haben. Links und rechts von ihnen erstreckten sich nur krumme, windzerzauste Kiefern und ansonsten Felsen. Muscheln lagen zu unseren Füßen im Sand und dazu dicke Klumpen Seetang.
»Hast du … mal mit deiner Mutter darüber gesprochen?«, fragte Amanda leise.
Ich schüttelte den Kopf.
Möwen flogen über unseren Köpfen, und schiefergraue Wolkenfetzen trieben eilig hinterher.
»Kassandra, versteh doch, ich weiß nicht, ob ich mich einmischen soll«, sagte Amanda nach einer halben Ewigkeit und hob für einen Moment beide Hände, eine Geste der Hilflosigkeit. »Deine Mutter möchte es nicht. Das hat sie mir gestern Abend am Telefon erst wieder – gesagt …«
»In was einmischen?«, fragte ich verwirrt.
Darauf gab meine Großmutter mir keine Antwort, sie schaute nur weiter über das unruhige, wilde Wasser, das so grau war wie der Himmel darüber. Immer neue, immer grauere Wolken zogen auf. Die Möwen über uns schrien, wie Möwen eben schreien. Immer hungrig oder immer unzufrieden oder immer glücklich. Wer weiß das schon? Oya und ich hatten in unserer Strombolizeit oft darüber nachgegrübelt, uns aber nie entscheiden können.
Wann, wenn nicht jetzt? Ich gab mir einen Ruck – und zum ersten Mal erzählte ich jemandem von meiner persönlichen Wolke. Ich erzählte so schnell wie möglich und schmückte die Sache nicht unnötig aus. Meine Stimme klang dünn und atemlos, das hörte ich selbst.
»Du lieber Himmel«, murmelte Amanda hinterher, und dann schwankte sie leicht und ich stützte sie hastig, und dann setzten wir uns stattdessen auf diese niedrige Mauer aus Felsbrocken am Ende des Rasens, der zum Haus meiner Großeltern gehörte. Die Mauer an sich sah harmlos und solide aus, und ich stellte meine Füße auf einen der grauen Steine.
»Vorsicht«, sagte Amanda besorgt, legte leicht eine Hand auf meinen Arm und deutete mit der anderen Hand auf die geschichteten Steine. Ich beugte mich verwundert nach vorne und spähte hinüber. Und tatsächlich, hinter den Steinen, auf denen wir saßen, ging es bestimmt zwei Meter in die Tiefe, und unten wirbelte das Meer und zeigte sich von seiner grauesten, rauesten Seite: Spitze Felsbrocken ragten drohend aus dem aufschäumenden, wellengetriebenen Wasser. Da sollte man besser nicht hinunterfallen – außer man hegte den Wunsch, sein Leben schnell hinter sich zu bringen.
»Diese Wolke …«, griff Amanda plötzlich den Faden wieder
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