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Weil du fehlst (German Edition)

Weil du fehlst (German Edition)

Titel: Weil du fehlst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Frey
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auf.
    »Ja?«
    Meine Großmutter suchte nach Worten.
    »Kannst du dich eigentlich noch an ganz früher erinnern?«, fragte sie dann unvermittelt. »Ich meine, an die Zeit, ehe Rabea … ehe ihr angefangen habt, so viel … herumzuziehen.«
    »Du meinst – an Raymond und so?«, fragte ich zurück und klaubte ein Stück Treibholz, das sich zwischen zwei dicken Steinbrocken verkantet hatte, hervor. Ich mochte Treibholz. Wenn man es entzündete, brannte es nicht rot wie ein normales Stück Holz, sondern blaugrün, weil es so voll Salz gesogen war. Schön sah das aus. Schön und geheimnisvoll. Sergio hatte uns dieses Wunder am Strand auf Stromboli gezeigt, an Oyas zehntem Geburtstag.
    Meine Großmutter nickte.
    »Kaum«, sagte ich leise. Ich dachte an Raymonds große Hand um meine, wie wir dahingingen und unsere Hände schwingen ließen. Und an den Schatten seiner Locken auf dem sonnigen Asphalt. Und an irgendwelche Gänge eines unbekannten Drugstores, durch die wir einmal gegangen waren. Und an die Ameisen und Käfer und Bienen, die wir an einem sonnigen Nachmittag zusammen beobachtet hatten. – Und an … Myron …
    »Myron«, murmelte ich verwirrt. Da war er wieder, dieser Name.
    »Du erinnerst dich an Myron?«, wiederholte Amanda und straffte sich. Wenigstens kam es mir so vor.
    »Ja«, sagte ich. »Und nein. Nicht wirklich. – Wer ist er?«
    Meine Großmutter seufzte tief. »Nun mische ich mich doch ein«, sagte sie besorgt und fröstelte. »Der Wind, der aus Nordosten bläst, ist im Winter immer schrecklich kalt. – Findest du nicht auch? Frierst du, Kassandra? Wollen wir nicht lieber zurückgehen?«
    »Amanda, bitte«, sagte ich leise. »Wer ist dieser Myron?«
    »Dein Großvater wird wütend auf mich sein …«
    Amanda verknotete nervös ihre Finger und schaute mit zusammengekniffenen Augen und gerunzelter Stirn über das Meer in die Ferne.
    »Marjorie und Myron«, sagte ich plötzlich, denn da war etwas. Eine Erinnerung, ein Schatten … Marjorie Armadillo hatte mit Myron zu tun, da war ich mir auf einmal sicher. Er war ein Junge, ein mürrischer Junge, der an ihrer Hand ging. Mit düsterer Miene … Ja, der Junge, der auch hinter meinem Vater und mir hergelaufen war an diesem sonnigen Tag, als Raymond sich immer wieder zu ihm umgedreht hatte.
    »Amanda, nun sag schon! Was soll denn diese Geheimniskrämerei? Das ist doch – lächerlich!«, rief ich und war auf einmal gereizt.
    »Du erinnerst dich also wirklich gar nicht mehr an das, was damals … passiert ist?«
    Ich schüttelte den Kopf, obwohl ich mir plötzlich nicht mehr sicher war. Da war etwas … Aber was?
    »Und deine Mom hat nie etwas gesagt? Zu dir und Oya?«
    » Was gesagt? Worüber?«
    »Über Myron … Über Len …«
    Len
    Len
    Len
    Len
    Len
    Len
    Ich fing an zu zittern.
    Len …
    »Kassandra, Liebling«, sagte Amanda erschrocken, weil mein Zittern nicht nur ein Zittern, sondern eher wie ein Erdbeben, wie ein Hurrikan war. Ich schwankte hin und her, und meine Hände zuckten und bebten und ich konnte nichts, nichts, nichts dagegen tun.
    »Len …«, flüsterte ich irgendwann, als Amanda mich schon fest in den Arm genommen hatte.
    Natürlich: Len.
    Wie hatte ich ihn vergessen können? Wie war das möglich?
    Len : blumenblaue, weit auseinanderstehende Augen, Sommersprossen wie goldene Sterne, helle, zerzauste Haare, immerzu aufgeschlagene Knie und dünne, helle, warme Finger. Seine Hand in meiner. Er und ich. Ich und er.
    Darius Seaborns Gesicht hatte mich an Lens Gesicht erinnert.
    Und der Name von Darius‘ jüngerem Bruder: Les. Er hatte mich ebenfalls an Len erinnert.
    An Len, meinen Bruder.
    Meinen Bruder.
    »Er – war mein Zwillingsbruder, nicht?«, flüsterte ich benommen. Ich spürte, dass meine Großmutter, Rabeas Mutter, nickte.
    Rabea! Meine Mutter – Lens Mutter!
    WARUM sprach sie niemals von ihm? Warum nicht? Was war passiert? Was?
    »Was ist passiert, Amanda?«
    Amanda atmete tief ein und aus, mein in ihren Schoß gepresstes Gesicht bewegte sich im gleichen Rhythmus.
    »Lass uns ins Haus gehen«, bat sie schließlich erneut.
    »Nein, bitte nicht«, sagte ich leise. Dabei riss der Wind inzwischen an unseren Haaren und Anziehsachen.
    Aber ich sah auf einmal etwas.
    Was ich sah : Len und ich, Hand in Hand mit unserem Vater. (Ich hielt den Atem an bei diesem Bild. Unvorstellbar: Nicht ich allein. Nein: Len und ich. Len und Kassandra Armadillo.) Und dann Marjorie, weiß gekleidet, mit einem türkisen Tuch um den

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