Weil du fehlst (German Edition)
war bleigrau und aufgewühlt, voller schneller, wütender Wolken.
Ich saß nur da und versuchte, nicht zu denken, während sich meine Gedanken überschlugen. Aber immer, wenn ich versuchte, einen Gedanken festzuhalten, glitt er davon in einem Strudel aus Entsetzen. Len. Len. Len. Diese Wolke aus Wespen. Der wahnsinnige Krach, den sie machten, während sie überall waren.
Ian kam zu mir herüber und deckte den ovalen Esstisch. Hellblaue, gemusterte Keramikteller, silberne Gabeln und Messer, dazu eine Kerze und schöne Gläser. Ich sah alles messerscharf und gleichzeitig verschwommen. Dabei weinte ich nicht.
Myron. Der andere Sohn meines gestorbenen Vaters. Wo war er heute? Erinnerte er sich noch an das, was er getan hatte?
IAN: Und? Wie hat sie es aufgenommen, dass du es Kassandra gesagt hast?
Amanda war in der Zwischenzeit zurück ins Wohnzimmer gekommen. Ich hatte sie gar nicht kommen hören.
Ja, warum hatte Rabea nie mit Oya und mir über Len gesprochen? Wie hatte sie zulassen können, dass wir ihn vergessen hatten? Wo hatten sie ihn begraben?
AMANDA: Sie hat geweint.
Amanda weinte jetzt ebenfalls.
Ich rührte mich nicht, konnte mich nicht rühren.
IAN: Jetzt essen wir erst einmal etwas. Und dann sehen wir weiter.
Er räusperte sich.
Der kleine Vorgarten dieses kleinen Hauses lag still vor dem Fenster, durch das ich weiter starrte wie erstarrt, er war mittlerweile vergraben unter einer frischen Decke unberührten Schnees.
IAN: Nun kommt schon. Wird ja alles kalt.
Hungrige Vögel flatterten um ein Vogelhäuschen unter einem Vorgartenbaum herum, in dem, wie es schien, kein Futter zu finden war.
IAN: Zehn Grad unter dem Gefrierpunkt.
AMANDA: Kassandra, dein Großvater hat recht. Lass uns etwas essen. Rabea ruft nachher noch einmal an.
Wie hatte ich Len vergessen können?
Und wie war es weitergegangen? Meine letzte Erinnerung war Raymonds Schrei, nein, danach war ich hingefallen. Und dann war da noch Len, irgendwann später, der mit geschlossenen Augen im Gras lag. Wo war dieser Myron in diesem Moment? Und Rabea? Und Oya, die erst zwei gewesen war? Was war daraufhin passiert? Kurz danach musste mein Vater krank geworden und gestorben sein. Und dann war Rabea mit uns fortgegangen, soviel stand fest. Milwaukee, Philadelphia, später Afumati, Prag, Stromboli, Paris.
Rabea auf der Flucht, weil erst ihr kleiner Sohn und dann ihr Mann gestorben waren. Zum ersten Mal verstand ich es, verstand ich sie. Ein bisschen wenigstens. Nein, ich verstand sie nicht, kein bisschen. Warum hatte sie Len aus unser aller Leben gestrichen? Wie hatte sie das tun können? Dazu hatte sie kein Recht gehabt.
Aus den Augenwinkeln sah ich meinen Großvater Getränke einschenken, Amanda ging um den Tisch herum, trat an meine Seite, streichelte für einen Augenblick meinen erstarrten, schmerzenden Rücken.
»Nun komm, Kassandra«, sagte sie leise. Ich hörte Ian mit Besteck klappern und hatte das Gefühl, nie wieder etwas essen zu können.
Der Tag ging im Nebel dahin und endete im Nebel. Ich hatte keinen Hunger, keinen Durst, musste nicht zur Toilette. Ich konnte kein Wort sagen, mein Handy war immer noch ausgeschaltet, ein paarmal hörte ich das Telefon meiner Großeltern klingeln.
»Es ist deine Mutter«, sagte Amanda ein Mal, zwei Mal, drei Mal zu mir, aber ich rührte mich nicht.
»Ich glaube, sie schläft«, hörte ich die Stimme meiner Großmutter, während sie die Tür zur Glasveranda wieder schloss. Sie klang besorgt. »Lass ihr Zeit. Die braucht sie jetzt. Ich verstehe ja bis heute nicht, warum du …«
Mehr konnte ich nicht hören. Ich hatte die Augen fest geschlossen, sie brannten wie Feuer, aber ich konnte nicht weinen.
Achmed, schrieb ich in Gedanken. Achmed, hilf mir.
Aber Achmed war weit weg, zu weit weg. Und mein Laptop lag immer noch ausgeschaltet im Wagen von Zeldas Mom.
Ich schlief ein und wachte auf und schlief wieder ein. Mein Rücken tat weh, außerdem hatte ich stechende Kopfschmerzen, und irgendwann war es Nacht. Schwerfällig richtete ich mich auf. Im Haus war es still. Unter der zugezogenen Verandatür schimmerte ein Lichtstreifen. Ich warf einen Blick auf die Leuchtziffern meiner Armbanduhr. Halb drei. War noch jemand wach? Mühsam stolperte ich aus meinem winzigen Gästezimmer. Oya! Ich hätte Oya anrufen müssen! Ob Rabea mit ihr gesprochen hatte in der Zwischenzeit? Oya hatte mit Sicherheit keine Erinnerung mehr an Len.
Im Wohnzimmer brannte eine kleine Salzkristalllampe. Daher also der
Weitere Kostenlose Bücher