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Weil du fehlst (German Edition)

Weil du fehlst (German Edition)

Titel: Weil du fehlst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Frey
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Hals und auch einer Art türkisem Turban auf dem Kopf. Dazu ihre lange Bernsteinkette, die klimpernd um ihren Hals hing. Der Geruch nach Orangen um sie herum.
    »Raymond!«, rief sie. »Raymond! – Sieh doch mal nach Myron, bitte! Er bockt schon wieder. Aber es ist auch alles nicht ganz leicht für ihn …«
    »Myron ist Raymonds Kind aus erster Ehe«, erklärte Amanda in diesem Moment leise. »Dein Halbbruder, also. Er … ist sechs Jahre älter als du.«
    Myron? Mein Halbbruder? Wo war er? Warum sahen wir ihn nie? Warum sprach nie jemand von ihm? Wie war das möglich?
    »Oh, Kassandra«, fuhr Amanda unglücklich fort. »Das alles ist Rabeas Angelegenheit, nicht meine. Sie hätte längst mit euch sprechen müssen. Aber sie konnte wohl nicht. Sie ist vor der Sache davongelaufen, all die Jahre, während ihr – anscheinend vergessen habt.«
    Davongelaufen. Vergessen.
    Mrs Ruhelos.
    Unsere Umzüge, wieder und wieder.
    Ich musste für einen Moment an Achmed denken: Hallo, Weltenbummlerin.
    Das war ich, weggelaufen vor meinem Zwillingsbruder, den es nicht mehr gab in meinem Leben, warum auch immer.
    »Er ist … gestorben, nicht wahr?«, fragte ich und hatte mich längst wieder aufgerichtet. Ich war nur ich. Ich alleine. Ich war kein kleines Kind, das sich im Schoß seiner Großmutter verkriechen konnte. Diese Großmutter hatte ich nie gehabt. Zumindest nicht, solange ich zurückdenken konnte.
    Amanda warf mir einen langen, gequälten Blick zu, aber sie nickte.
    Und da wusste ich es wieder.
    Die Wolke. Es gab sie. Es gab sie wirklich. Sie war vom Himmel gestürzt, auf mich, auf mich – und Len. Sie war schrecklich laut gewesen, und sie hatte uns eingehüllt. Aber irgendwie war ich ihr entkommen, anders als Len. Seine blumenblauen Augen geschlossen, seine zerzausten Haare wie ein Heiligenschein um ihn herum. Er war nicht entkommen. Ihn hatte die Wolke getötet.
    »Was war es?«, fragte ich, und meine Zähne schlugen aufeinander. Ich war so steif und angespannt, dass meine Muskeln vibrierten und wehtaten.
    »Wespen«, formten Amandas Lippen fast tonlos. Aber es reichte aus.
    Ich höre : Rauschen in meinen Ohren
    Ich fühle : Angst und Benommenheit
    Am liebsten will ich mir die Ohren zuhalten, weglaufen, nicht weiterdenken. Ja, nicht weiterdenken …

    Wir hatten uns Bienen angesehen, eine Menge rechteckige Holzkästen, auf Pflöcken stehend, nebeneinander. Summen erfüllte die Luft. Summen und Flügelgeschwirr.
    Raymond hielt uns an der Hand und legte den Finger auf die Lippen.
    »Habt keine Angst, sie tun euch nichts.«

    Es muss ein anderer Tag gewesen sein, als er uns ein merkwürdiges, graues Gebilde zeigte, das an einem niedrigen Ast zu hängen schien. Es war halbrund, sah fast aus wie ein selbstgebastelter, etwas windschief geratener Lampion. Spätsommer? Ein sehr warmer Nachmittag? Aber schon die ersten, bunten Blätter an den Bäumen?
    »Das sind Wespen«, erklärte unser Vater. Wieder Flügelgeschwirr. Wieder Summen in der warmen Luft. »Ihr Nest haben sie sich selbst gebaut. Nicht schlecht, oder? Jetzt, wenn der Herbst vor der Tür steht, werden sie unruhig und reizbar.«
    Er deutete auf das graue, lampionartige Nest. »Bald ist ihre Zeit vorbei. Im Winter sterben sie.«
    Plötzlich Unruhe.
    Myron.
    Es ist Myron, der zu uns stößt.
    »Sie sollen weggehen, sie sollen weggehen!«, schreit er. Wütend? Ja, sehr wütend.
    Und wer soll weggehen? Wir? Len und ich?
    Und dann ist da plötzlich dieser lange Ast, mit dem er nach Raymond schlägt. Oder nach uns? Ja, nach uns.
    »Myron!«, ruft mein Vater, und seine Stimme klingt nun auch wütend. Plötzlich ist die Luft voller Lärm. Es wird dunkel, laut, heiß und kalt zur gleichen Zeit. Myrons Ast ist direkt ins Wespennest gekracht. Er hat ihn dort hineingeschleudert. Das sehe ich noch. Dann höre ich nur noch diesen Wahnsinnslärm und eine schwarze, tornadoartige Wolke fällt auf uns nieder.
    »Kassandra! Len!«, schreit eine Stimme.
    Raymonds Stimme.
    Mehr weiß ich nicht.
    Mehr brauche ich auch nicht zu wissen.
    Denn jetzt weiß ich alles wieder.
    Denke ich jedenfalls.

    Amanda und Ian gaben sich große Mühe mit mir. Amanda telefonierte im Nebenzimmer lange mit Rabea, das bekam ich mit. Ian, in der hellen Küche, briet Artischockenherzen. Dazu schnitt er Baguettebrot und rührte eigenhändig Kräuterbutter an. Aus der Wohnküche am Ende des Wohnraums roch es nach Knoblauch und Basilikum und anderen Gewürzen.
    Draußen schneite es. Der Himmel über dem Meer

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