Weil du fehlst (German Edition)
Lichtschein. Bestimmt hatte Amanda die Lampe mit Absicht brennen lassen, damit nicht alles stockduster war, wenn ich aufwachte. Auf dem Esstisch lag dann auch ein kleiner Brief, in dem Amanda darauf hinwies, dass ich sie jederzeit wecken könne. Hinter das Jederzeit hatte sie drei Ausrufezeichen gesetzt. Außerdem wies meine Großmutter mich auf die Lebensmittel im Kühlschrank hin, von denen ich mir nehmen sollte, was ich wollte, wenn ich Hunger bekäme. Auf dem Tisch stand noch mein Gedeck, dazu eine volle Kanne Tee. Und – ein kleines Foto.
Ein Foto : Len und ich. Zwei kleine, blonde Kinder. Mehr nicht.
Ich konnte kaum atmen.
Da war er. Ich starrte ihn an und an und an.
Der nächste Morgen brachte: Tauwetter, wieder einen Anruf von Rabea, den ich nicht annahm, die Aussage von meinem Großvater, dass er via Internet herausgefunden hatte, dass ich keinesfalls alleine mit Mrs Wards Auto fahren durfte, da es in diesem Fall tatsächlich völlig unversichert sei – und ein recht schweigsames Frühstück:
AMANDA: Geht es dir heute etwas besser, Liebes?
ICH: Hm.
IAN: Was für ein Schmuddelwetter.
Es war nebelig und grau draußen. Es sah aus, als niesele es Nebelschwaden.
AMANDA: Hast du… das kleine Foto gefunden, das ich dir rausgelegt hatte? Das Bild von dir und Len?
Ich schluckte und nickte.
Dann schwiegen wieder alle. Man konnte das Meer hören. Ich brachte es nicht fertig, etwas zu essen. Mein Magen war wie zugeschnürt.
Während Amanda schließlich den Tisch abräumte, sagte Ian drei Dinge.
Drei Dinge :
1. Ich könne bleiben, bis die Schule wieder losgehen würde.
2. Er würde mich dann, um dem Versicherungsschutz zu genügen, persönlich in Mrs Wards Auto zurück nach Hause bringen.
3. Er sei immer der Meinung gewesen, dass es ein Fehler von Rabea gewesen sei, über die Sache mit Len zu schweigen, als sie merkte, dass ich schockbedingt nicht in der Lage war, mich alleine zu erinnern.
»Es war, als sei das alles nicht geschehen. Oya war ja noch klein. Und sie war auch nicht dabei gewesen, als – es passierte. Rabea und sie waren zu Hause geblieben, weil Oya erkältet war. Darum war Raymond mit euch beiden und mit Myron alleine losgezogen. Es waren Ferien, und Myron war ein paar Tage bei euch zu Besuch.«
Der Regen war stärker geworden und trommelte jetzt wie Kieselsteine auf das Dach des kleinen Hauses. Ian stand am Fenster und schaute nach draußen.
»Wo … wo ist Myron eigentlich heute?«, fragte ich schließlich, und meine Stimme klang belegt. Meine Großmutter war im Nebenzimmer verschwunden.
Ian seufzte, aber er drehte sich nicht um.
»Myron …«, sagte er nur. Dann schwieg er wieder.
»Und Marjorie?«, fuhr ich fort.
Ian drehte sich um.
Und dann vollendete er, was Amanda begonnen hatte. Meine Vergangenheit, meine Geschichte …
Hätte ich es Achmed geschrieben (aber das tat ich nicht, weil ich Achmed 1. in diesem Moment völlig vergaß, 2. mein Laptop immer noch in Mrs Wards Chevy lag und 3. alles zusammenstürzte), hätte es vielleicht so geklungen:
Es ist nicht zu glauben! Ich hasse sie alle: Rabea! Ian! Amanda! Und dann sind da noch Marjorie, meine andere Großmutter – und Myron Armadillo, mein Halbbruder! Ja, du hast richtig gelesen: mein Halbbruder! Raymonds Sohn aus seiner ersten Ehe! Und Myron, der damals zehn war, war wütend, weil Raymond jetzt mit Rabea verheiratet war und weil es jetzt außer ihm auch noch mich, Len und Oya gab! (Du willst wissen, wer Len ist? Später, Achmed, später …!) Jedenfalls musste Myron einen Teil seiner Ferien bei uns verbringen, das hatten seine Mutter und Raymond so verabredet, als sie sich trennten – aber Myron wollte nicht mit uns zusammen sein. Und dann, im Scheißspätsommer 1999 …
»Kassandra, oh Kassandra«, sagte Amanda leise. Hinterher, als ich alles wusste. Alles wusste, aber nichts mehr verstand.
»Ich … ich möchte alleine sein, bitte«, flüsterte ich.
»Möchtest du …? Sollen wir …? Natürlich, das verstehen wir«, sagte meine Großmutter hastig, während sie mir hilflos dabei zusah, wie ich in meine Jacke schlüpfte, meine Tasche vom Stuhl nahm, über dem sie seit vorgestern hing – war es wirklich erst zwei Tage her, dass ich hierhergekommen war? –, und zur Tür stolperte.
»Es ist kalt draußen, Kassandra. Und nass«, fügte sie hinzu. »Nimm nicht den Wagen, hörst du? Denk an das, was dein Großvater wegen der Versicherung gesagt hat. Außerdem bist du jetzt natürlich außer dir
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