Weil du fehlst (German Edition)
entgegengesetzten Richtung ein kleines, recht verwittertes Hinweisschild auf eine Tauchschule ausmachen. Bishop‘s Dive Center stand darauf . Mehr war nicht nötig gewesen.
»Was ist denn bloß passiert, Kassandra?«, fragte er erschrocken, nachdem er seinen Wagen hinter meinem abgestellt, herausgesprungen, die Chevyfahrertür aufgerissen, mich besorgt begutachtet hatte und ich anschließend zu ihm ins warme Auto gestiegen war. Ich zitterte am ganzen Körper, und meine Zähne schlugen laut aufeinander. Mrs Wards Auto, das inzwischen völlig ausgekühlt war, hatte ich sorgfältig verriegelt, und Mr Rosen versicherte mir, dass es hier ruhig eine Weile stehen bleiben konnte.
»Ich habe mir die Fahrt über die schlimmsten Dinge ausgemalt«, gestand er und fuhr sich mit den Händen durch seine honigfarbenen Haare. »Ich dachte, du wärst vielleicht überfallen worden. Etwas in der Art …«
Ich schwieg.
»Was ist mit deinen Großeltern, Kassandra? Hast du sie angerufen? Soll ich dich zu ihnen bringen?«
Das Mobiltelefon hatte in der Zwischenzeit derart oft vibriert, dass ich es, kurz bevor Mr Rosen gekommen war, erneut ausgestellt hatte.
»Nein, bitte nicht …«, flüsterte ich erschöpft. »Ich will … auf keinen Fall zu ihnen.«
»Hast du dich mit ihnen gestritten?«, forschte Mr Rosen.
Ich schwieg und schüttelte den Kopf.
»Was ist dann los mit dir? Du bist schneeweiß im Gesicht.«
Ich schwieg und schwieg und schwieg. Ich spürte, dass meine Augen vom Weinen geschwollen waren, und ich musste mit den verschmierten Spuren von Tränen und – sorry für das Wort – Rotz im Gesicht furchtbar aussehen.
Mr Rosen seufzte. »Dann also erst mal Wärme«, schlug er vor. »Einverstanden? – Und vielleicht willst du dich ja auch ein bisschen frisch machen?«
Ich nickte.
»In Twining, also ganz in der Nähe, gibt es ein verrücktes, neues Café. Es heißt Yes! und hat so eine neospirituelle Atmosphäre. Wenn du dich nicht an den lachhaften Namen der Gerichte dort störst, ist es recht passabel. Was ist, wollen wir?«
Ich nickte wieder und hatte das Gefühl, nie mehr ein vernünftiges Wort herausbringen zu können.
»Ich kenne in Maine praktisch jeden Winkel, musst du wissen«, erklärte Oyas Geschichtslehrer, während er den Motor startete, und lächelte mir zu. »Ich stamme von hier. Virginia ebenfalls. Wir haben praktisch schon zusammen im Sandkasten gesessen. Und am Meer, versteht sich. Wir waren als Kinder Nachbarn.«
Dann war es also gar nicht, wie Mercedes erzählt hatte. Es war gar kein Zufall gewesen, dass Mr Rosen und Ms Wells sich an der Woodrow-Wilson gefunden hatten. Kein plötzliches Bamm!, sondern eine harmlose Kinderzeitliebe.
Es war Mittagszeit inzwischen. Mein Magen fühlte sich flau an, ich hatte seit einer Ewigkeit nichts Vernünftiges mehr gegessen, trotzdem war mir der Hals immer noch wie zugeschnürt.
Zum Glück war das kleine, neospirituelle Restaurant in Twining fast leer. Eine sehr große, sehr dünne, sommersprossige Bedienung führte uns beschwingt zu einem Tisch zwischen einem buschigen Ficus Benjamina und einem Ginsengbaum im silbernen Blumenkübel.
Mr Rosen schob mir die Speisekarte zu.
»Der große Salat des Hauses ist gut«, schlug er lächelnd vor. »Er nennt sich allerdings Ich bin erfüllt . Fühl dich eingeladen, Kassandra.«
Außer Ich bin erfüllt gab es noch Ich bin erwacht, Ich bin beschwingt und lauter solche Sachen. Ich runzelte die Stirn und fühlte mich müde, krank, fehl am Platz, aber ich war andererseits erleichtert, nicht mehr alleine zu sein wie zuvor in den Stunden im Auto am Straßenrand.
»Ich nehme einmal Ich bin erfüllt mit Honig-Vinaigrette«, sagte Mr Rosen zu der sommersprossigen Kellnerin. »Und einmal Ich bin offen mit Sojasprossen.«
Ich bin offen war ein Grünkern-Omelette.
Ich nahm den Salat, den Mr Rosen mir empfohlen hatte, mit Essig-Öl-Dressing, und bekam ihn mit einem Korb voller Olivenbrotscheiben.
Meine Stimme, beim Bestellen, klang unwirklich.
Bevor das Essen serviert wurde, ging ich noch zur Toilette. Ich sah schrecklich aus. Erschöpft strich ich mir die Haare aus der Stirn. Mein Gesicht war blass, unter meinen geschwollenen Augen lagen tiefe, dunkle Schatten. Hastig spritzte ich mir Wasser ins Gesicht, wieder und wieder. In meiner Umhängetasche hatte ich meine Schminksachen, aber die Tasche hatte ich dummerweise in Mr Rosens Wagen liegen lassen. Ich fühlte mich sehr bleich und nackt und durch und durch
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