Weil du mich siehst
ihr Tränen die Wangen hinunter rannen. Das hätte sie nicht erwartet. Das war etwas, von dem sie gedacht hatte, es niemals wieder spüren zu dürfen. Doch es war geschehen, so unerwartet wie Schnee an einem Sommertag, und sie war überwältigt.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte der Fahrer besorgt.
»Ja.« Paula nickte. »Es geht mir gut.«
Und sie lächelte, zum ersten Mal seit … sie konnte sich nicht erinnern.
Kinderlachen
Der nächste Tag war ein besonderer. Paula hatte sich die ganze Woche darauf gefreut, und jetzt war sie unendlich aufgeregt. Heute sollte sie Damian treffen.
Gegen elf Uhr vormittags holte Jens sie ab. Er war der Mann ihrer Schwester Sandra und mit dafür verantwortlich, dass Damian in Sicherheit war, dass er weiterhin das Leben führen konnte, das er kannte, wenn auch nicht mit den Menschen, die an seiner Seite hätten sein sollen.
Paula begrüßte Jens überschwänglich. Sie konnte es kaum erwarten, Damian zu sehen . Dankbar hakte sie sich bei Jens ein und ließ sich von ihm ins Auto setzen.
Sie fuhren eine gute Stunde, denn die Familie lebte außerhalb der Stadt, an einem Ort, wo es noch Natur gab. Paula freute sich für Damian, dass er mit Wiesen und Hunden und Hühnern und Wildblumen aufwachsen konnte. Er war schon immer einer gewesen, der gerne im Matsch spielte, der Ameisen beobachtete oder Regenwürmer ausgrub.
Sie lächelte bei dem Gedanken an Damian. Dieses Dauerlächeln begleitete sie schon den ganzen Tag, seit dem Moment, als sie im Morgengrauen aufgewacht war. Und es war nicht nur wegen Damian.
Sie musste wieder an Finn denken. Was dieser Fremde bei ihr ausgelöst hatte. Zuneigung in einer ganz eigenen Form. Annäherung auf die scheueste, zärtlichste Art.
Auch wenn sie nicht wusste, was da am gestrigen Abend geschehen war, so wollte sie doch mit einer positiven Einstellung daran zurückdenken. Denn Finn hatte mit einer Berührung geschafft, was Therapeuten, Ärzte und Krankenschwestern, ja selbst Sandra oder Kathi, in zwei vollen Jahren nicht geschafft hatten: Sie hatte sich wieder gut gefühlt, wohl in ihrer Haut, geborgen, hoffnungsvoll.
Was auch immer noch kommen würde, sie wusste eines: Sie war Finn unendlich dankbar. Und sie freute sich schon auf den kommenden Dienstag, wenn sie ihn wiedersehen würde.
»Was gibt es Neues bei dir?«, fragte Jens.
»Ach Jens, was soll es denn Neues geben?«
»Ich wollte nur höflich sein.«
»Ich weiß. Erzähl du mir lieber, was es bei euch Neues gibt. Erzähl mir von Damian.«
»Er geht nun seit sechs Wochen in die Schule. Er macht sich gut, hat schon ein paar Freunde gefunden.«
»Das freut mich zu hören. Hat er auch nette Lehrer?«
»Das erzählt er dir am besten selbst. Nachher wird er noch böse auf mich, wenn ich dir schon alles vorweg erzähle.«
»Wie geht es Sandra und den Kindern?«
»Sehr gut. Als ich losgefahren bin, haben sie gerade Kekse gebacken. Sandra macht außerdem dein Lieblingsessen, Spaghetti Bolognese.«
Paula lächelte. Gute, alte Sandra. Dann wurde ihr klar, dass sie seit Jahren keine Spaghetti Bolognese mehr gehabt hatte und sie dachte besorgt darüber nach, wie schwer es werden würde, die langen Nudeln überhaupt zu essen.
Sobald sie sich aber dem Haus näherten, waren alle Sorgen und Bedenken verflogen und Paula freute sich einfach nur noch auf ihre Familie und vor allem auf ihren Sohn.
Sie hatte Damian seit zwei Wochen nicht gesehen , hatte ihn, seit sie aus der Klinik raus war, überhaupt erst dreimal getroffen. Jedes Mal war er zwar ein wenig scheu, doch aber sehr herzlich gewesen. Sie war jetzt eine andere für ihn. Eine Mutter, die nicht bei ihm war, die ihn verlassen hatte, wie sein Vater ihn auch verlassen hatte. Am Tag des Unfalls hatte er gleich beide Elternteile verloren.
Paula hatte mit im Auto gesessen. Sie konnte von Glück sagen, dass sie es überlebt hatte. Doch es waren Wochen im Krankenhaus und Monate in der psychiatrischen Einrichtung gefolgt. Sie war nicht mehr die Mama, die Damian gekannt hatte. Sie verstand, dass er sie jetzt mit anderen Augen betrachtete und war ihm nicht böse – auch wenn es furchtbar wehtat.
Damian hatte jetzt eine neue Familie, eine gute Familie, die Familie ihrer Schwester. Er war wie ein drittes Kind für sie geworden und Paula war froh, dass es Damian so gut bei Sandra und Jens gefiel.
Bei jedem Besuch hoffte Paula sehnlichst, dass
Weitere Kostenlose Bücher