Weil du mich siehst
bei sich aufzunehmen, würde es gutgehen? Wie würde Damian mit der Tatsache klarkommen, von allem, was er kannte, fortgerissen zu werden? Wieder einmal?
Der Kleine hatte weiß Gott genug durchgemacht. Natürlich liebte Paula ihn, von ganzem Herzen, doch sie wusste noch nicht, wie die Zukunft für sie beide aussehen sollte.
Dazu kamen all die Peinlichkeiten des gestrigen Tages – das Spaghetti-Essen, wo sie am Ende mehr Sauce im Gesicht als im Mund hatte, was alle ganz lustig fanden, besonders die Kinder, sie selbst aber beinahe zum Weinen gebracht hätte aus lauter Frust. Sandra hatte sich nachher bei ihr entschuldigt, sie habe nicht nachgedacht, das nächste Mal würde sie etwas kochen, das leichter zu essen war.
Dann die Situation am Abend. Sie alle hatten sie da behalten wollen, nur sie selbst hatte der Sache im Weg gestanden. Was sollte Damian nur denken, wenn seine eigene Mama nicht einmal die Nacht bei ihm verbringen wollte?
Dazu kam, dass sie die ganze Nacht geweint hatte, aus verschiedenen Gründen, und jetzt am nächsten Morgen wahnsinnige Kopfschmerzen hatte. Sie nahm eine der Schmerztabletten, die Kathi ihr besorgt hatte und die immer auf ihrem Nachttisch lagen. Sie drückte sie aus der Verpackung und schluckte sie mit einem großen Schluck Wasser herunter.
Der Sonntag wollte nicht vergehen. Paula hatte nicht einmal Lust auf ein Hörbuch. Also schaltete sie für eine Weile den Fernseher an und hörte irgendwelchen Schauspielern dabei zu, wie sie sich verliebten.
Unwillkürlich musste sie wieder an Finn denken. Was war nur mit ihr los? Nur weil er einmal ihre Hand gehalten hatte, glaubte sie, dass sie ihm irgendetwas bedeutete?
Finn war doch fast noch ein Junge, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Was sollte der schon von einer sechsundzwanzigjährigen blinden und gebrochenen Frau wollen?
Außerdem war er nicht blind. Sie wusste nicht, wie schlimm ihre Narben aussahen, und wenn sie Kathi oder Sandra danach fragte, versicherten sie ihr, sie seien gut verheilt, aber wer wollte schon so ein hässliches Geschöpf zur Freundin?
Den Gedanken an etwas Glück, und das auch noch mit einem Mann, der sich irgendwie in ihren Kopf geschlichen hatte, musste sie schnellstens wieder vergessen.
Sie war kaputt genug, sie durfte nicht zulassen, dass sie irgendwen mit sich runterzog. Sie würde Finn, seine Berührung und die Wärme, die sie in ihr ausgelöst hatte, abhaken, bevor sie sich in etwas hineinsteigerte, das keine Zukunft hatte. Bevor sie zuließ, dass sie wieder fühlte, sich gut fühlte.
Wie könnte sie zulassen, dass sie Glück empfand, wenn doch Max und Louisa von ihr gegangen waren? Was für ein Mensch wäre sie, wenn sie weitermachen würde, als wäre nichts geschehen? Wie könnte sie sie je vergessen? Wie könnte sie Max hinter sich lassen und einem neuen Mann Platz in ihrem Leben machen? Das würde sie niemals tun. Sie hatte Max ewige Liebe geschworen, und sie würde ihr Versprechen nicht brechen.
Wenn sie an Max dachte, wurde sie unendlich traurig. Er war so ein wundervoller Mensch gewesen, ein toller Vater und ein liebevoller Ehemann. Verständnisvoll hatte er ihr zugehört, wenn sie von ihren Plänen erzählte, von dem Studium, das sie nachholen wollte, sobald die Kinder alt genug wären. Sie wollte Kunst studieren. Paula liebte Bilder, kannte wohl jedes Kunstmuseum im Norden Deutschlands, und jetzt konnte sie sie nicht einmal mehr sehen.
Es war ein grauenhaftes Schicksal, blind zu sein. Als ein Mensch, der Farben und Formen so geliebt hatte, das Augenlicht zu verlieren, war das Schlimmste, was passieren konnte. Viel lieber hätte sie auf ihr Gehör verzichtet, auf ihre Beine oder ihre Stimme – so wie Finn. Aber natürlich konnte man es sich nicht aussuchen. Sie konnte froh sein, dass sie überhaupt noch lebte.
Nur manchmal war sie sich nicht sicher, ob ihr Überleben ein Geschenk oder ein Fluch war.
Irgendwann ging der Sonntag dann doch herum und der Montag begann.
Paula schlief bis in den späten Vormittag hinein und wachte erst auf, kurz bevor der Besuch von Frau Ludwig anstand. Heute war es Paula egal, wie die Wohnung und auch wie sie selbst aussah. Sie scherte sich nicht darum, dass auf der Küchenablage schmutziges Geschirr stand und sie es nicht mehr geschafft hatte staubzuwischen. Ihre dreckige Wäsche hatte sie zusammengeknüllt in den Kleiderschrank gestopft. Lustlos saß sie jetzt am Küchentisch, während Frau Ludwig sie
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