Weil Ich Euch Liebte
noch groß genug ist?«
»Keine Ahnung. Aber wenn du’s mir sagst, könnte ich mein Maßband rausholen und nachmessen.«
»Oh, es gibt auf jeden Fall etwas, das ich gern nachmessen würde.«
Das war einmal.
Jetzt stand ich vor dem Kleiderschrank und fragte mich, was ich mit dem ganzen Kram tun sollte. Aber vielleicht war es noch zu früh, mich damit zu beschäftigen. Mit all diesen Blusen und Pullovern und Kleidern und Röcken und Schuhen und Taschen und Schuhkartons vollgestopft mit Briefen und Andenken, und alle verströmten ihren Duft, das, was ihr Wesen ausgemacht und was sie zurückgelassen hatte.
All das zu sehen machte mich traurig. Und es machte mich wahnsinnig.
»Zum Teufel mit dir«, sagte ich leise.
Mir fiel wieder ein, dass ich damals auf dem College etwas über die verschiedenen Phasen der Trauer gelernt hatte: Verhandeln, Nicht-wahrhaben-Wollen, Akzeptanz, Zorn, Depression, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Woran ich mich nicht erinnerte, war, ob man diese Phasen vor seinem eigenen Sterben oder nach dem Tod eines nahestehenden Menschen durchlief. Damals jedenfalls klang es mir nach ausgemachtem Schwachsinn, und heute eigentlich auch noch. Was ich jedoch nicht verleugnen konnte, war dieses überwältigende Gefühl, das seit Sheilas Beerdigung vor ein paar Tagen in mir rumorte.
Zorn.
Natürlich war ich am Boden zerstört. Ich konnte es nicht fassen, dass Sheila nicht mehr da war. Wusste nicht, wie es ohne sie weitergehen sollte. Sie war die große Liebe meines Lebens, und jetzt hatte ich sie verloren. Natürlich trauerte ich. Wenn ich einen Augenblick für mich allein hatte, sicher sein konnte, dass Kelly mich nicht dabei ertappen würde, leistete ich mir den Luxus, mich völlig gehenzulassen. Ich stand unter Schock, fühlte mich leer, deprimiert.
Aber eigentlich war ich nur eines: rasend. Ich kochte vor Wut. Ein Gefühl, das mir völlig fremd war. Reiner, unverdünnter Zorn. Und es gab kein Ventil dafür.
Ich musste mit Sheila reden. Es gab ein paar Fragen, die ich loswerden musste.
»Verdammt noch mal, was hast du dir dabei gedacht? Wie konntest du mir das antun? Wie konntest du Kelly das antun? So was Hirnverbranntes! Scheiße, was in aller Welt ist in dich gefahren? Wer oder was bist du eigentlich? Was ist aus der klugen, vernünftigen Frau geworden, die ich geheiratet habe? Die wäre nämlich ganz bestimmt nicht in diesen Wagen gestiegen.«
Tausend Fragen gingen mir durch den Kopf. Und nicht nur manchmal. Ständig. In jeder wachen Minute.
Wie kam meine Frau dazu, sich sternhagelvoll ans Steuer zu setzen? Warum sollte sie so etwas für sie völlig Untypisches tun? Was hatte sich in ihrem Kopf abgespielt? Welche Dämonen hatte sie die ganze Zeit vor mir verborgen? Als sie den Zündschlüssel umdrehte, anscheinend mit mehr Alkohol als Blut in den Adern, hatte sie da ihren Verstand noch so weit beisammen, dass sie wusste, was sie tat? War ihr klar, dass sie mit ihrem Leben spielte, und nicht nur mit ihrem?
Hatte sie das alles vielleicht mit Absicht getan? Wollte sie sterben? Hatte sie eine geheime Todessehnsucht mit sich herumgetragen?
Ich musste es wissen. Der Wunsch, das zu wissen, war wie ein Schmerz. Und nichts und niemand konnte diesen Schmerz lindern.
Vielleicht hätte ich Sheila bedauern müssen. Mitleid für sie empfinden müssen, dass sie, aus mir unverständlichen Gründen, etwas so Wahnsinniges getan und letztendlich den Preis für so viel Unverstand gezahlt hatte.
Aber davon spürte ich nichts. Wut und Enttäuschung darüber, was sie ihren Hinterbliebenen angetan hatte, war alles, was ich fühlen konnte.
»Es ist unverzeihlich«, flüsterte ich. »Absolut un-«
»Dad?«
Ich fuhr herum.
Kelly stand neben dem Bett. Sie trug Jeans und eine leichte Jacke, einen Rucksack über eine Schulter gehängt. Das Haar hatte sie sich mit einem roten Gummi zu einem Pferdeschwanz hochgebunden.
»Ich bin fertig«, sagte sie.
»Gut«, antwortete ich.
»Hast du mich nicht gehört? Ich hab dich gerufen. Mindestens hundert Mal.«
»Tut mir leid.«
Sie schaute an mir vorbei in den Kleiderschrank ihrer Mutter und machte ein vorwurfsvolles Gesicht. »Was machst du da?«
»Nichts. Rumstehen.«
»Du denkst doch nicht daran, Moms Sachen wegzuschmeißen?«
»Eigentlich hab ich an überhaupt nichts gedacht. Aber, ja, irgendwann muss ich auch entscheiden, was mit ihren Kleidern geschehen soll. Ich meine, bis du sie tragen kannst, sind sie längst aus der Mode.«
»Ich will sie
Weitere Kostenlose Bücher