Weil ich Layken liebe
Laptop ein und sieht Javi an. »Na und? Wenn sich jemand besser fühlt, nachdem er ein Gedicht über seinen toten Hund geschrieben hat, ist das toll. Lass ihn doch. Wenn dir ein Mädchen das Herz gebrochen hat und du dir Erleichterung schaffst, indem du aufschreibst, wie es dir geht, ist das ganz allein deine Sache.«
»Ja, klar«, sagt Javi. »Meinetwegen soll jeder machen, was er will. Was mich daran stört, ist auch eher, dass das Zeug damit quasi für immer in der Welt ist, obwohl das Gefühl selbst längst vorbei ist. Was ist, wenn ein Typ mit einem Gedicht über eine superharte Trennung bei einem Poetry-Slam auftritt und dann kommt er irgendwann darüber hinweg und verliebt sich in eine andere? Das Gedicht existiert dann immer noch und bei YouTube ist das Video dazu womöglich für alle Zeiten zu sehen, obwohl das Gefühl längst Vergangenheit ist. Was bringt das? Wenn der Typ es sieht, wird er nur an seinen Schmerz erinnert, und sonst interessiert es niemanden, weil es Schnee von gestern ist.«
Will steht auf, dreht sich zur Tafel, greift nach einem Stück Kreide und schreibt etwas auf. Dann tritt er zur Seite.
Avett Brothers
»Kennt die jemand?«, fragt er. Er wirft mir einen Blick zu und schüttelt unmerklich den Kopf, um mir zu signalisieren, dass ich nicht antworten soll.
»Den Namen hab ich, glaub ich, schon mal irgendwo gehört«, ruft jemand von hinten.
»Das kann gut sein«, sagt Will. »Die Avett Brothers sind nämlich berühmte Philosophen, die extrem kluge und überdenkenswerte Dinge von sich geben.«
Ich muss ein Lachen unterdrücken, obwohl er im Grunde genommen nichts Falsches gesagt hat.
»Ich habe ihren Namen deshalb an die Tafel geschrieben, weil sie einmal etwas ganz Ähnliches wie das gefragt worden sind, was du gerade angesprochen hast, Javi. Nach einem ihrer Auftritte wollte jemand wissen, ob es nicht schwierig für sie sei, jedes Mal wieder die traurigen Gefühle zu durchleben, die sie zu ihren Stücken inspiriert haben, obwohl sie diese Gefühle inzwischen vielleicht gar nicht mehr so empfinden. Die Avett Brothers haben darauf geantwortet, dass die Tatsache, dass sie darüber hinweg sind, nicht bedeutet, dass es nicht womöglich jemanden gibt, der ihnen in dem Moment zuhört und sich vielleicht genau in der Situation befindet, die sie beschreiben.«
»Ja und?«, fragt Javi.
»Ich meine damit, dass es keine Rolle spielt, ob du den Schmerz, der dich letztes Jahr zu einem Stück inspiriert hat, heute noch so spürst oder nicht. Dass du mit dem, was du jetzt schreibst, in fünf Jahren möglicherweise jemanden in seinem tiefsten Inneren berühren kannst – das ist der Sinn von Poesie.«
Als er den Beamer anschaltet und einige Zeilen an die Wand wirft, erkenne ich sie sofort wieder. Es ist der Text, mit dem er an unserem ersten gemeinsamen Abend am Slam teilgenommen hat. Das Stück über den Tod seiner Eltern.
»Ich habe euch einen Text mitgebracht, den ich vor zwei Jahren geschrieben habe, nachdem meine Eltern tödlich verunglückt sind. Ich war todtraurig und wütend und habe einfach ungefiltert zu Papier gebracht, was ich damals empfunden habe. Wenn ich es heute lese, denke ich, dass ich manches inzwischen anders ausdrücken würde. Aber bereue ich deswegen, es geschrieben zu haben? Nein. Weil es nämlich sein könnte, dass es jemanden gibt, der sich in genau diesen Worten wiederfinden kann. Dass sie in ihm – oder ihr – etwas auslösen.«
Er markiert mit der Maus eine Zeile des Gedichts.
Bloß drüber reden wollen die Leute nicht,
das macht doch nur traurig.
»Vielleicht sitzt jetzt, in diesem Moment, jemand in diesem Raum, der dieses Gefühl sehr gut nachempfinden kann. Wie ist das mit euch? Macht es euch traurig, über den Tod zu reden? Was für eine Frage! Natürlich macht es euch traurig. Der Tod ist keine schöne Sache. Es macht keinen Spaß, über ihn zu reden. Aber manchmal geht es nun mal nicht anders, man muss darüber reden.«
Ich durchschaue ihn. Wütend verschränke ich die Arme vor der Brust und verenge die Augen. Will sieht mich kurz an und markiert dann eine weitere Zeile.
Hätten sie ihm doch nur ins Auge gesehen.
Das Unausweichliche akzeptiert,
an das Danach gedacht,
»Was wollte ich damit ausdrücken? Meine Eltern hatten die Möglichkeit, dass sie unerwartet sterben könnten, zu Lebzeiten verdrängt und dadurch natürlich auch keine Vorbereitungen getroffen. Ich war wütend auf sie, weil ich nach ihrem Tod plötzlich mit Rechnungen dastand, die
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