Weil sie sich liebten (German Edition)
Augen sind ja der
totale Wahnsinn.«
Ich sah meinen Sohn an. Seine Augen waren gerötet und merkwürdig
aufgequollen. Wieso hatte ich das vorher überhaupt nicht bemerkt? Es sah aus,
als wären die Augen voller Flüssigkeit und könnten jeden Moment bersten.
Ich dachte, James hätte vielleicht eine Bindehautentzündung. Er
hätte vielleicht zu lange am Computer gesessen. Auf der Heimfahrt habe ich ihn
rundheraus gefragt, was Julie mit ihrer Bemerkung gemeint habe. Er behauptete,
er hätte keine Ahnung. Ich hielt den Wagen an und sagte: »Sieh mich an.« Das
tat er, ohne mit der Wimper zu zucken. Er sah mir direkt in die Augen und sagte
gereizt: »Mann, wir haben uns in der Schule einen Film angeschaut.« Dabei nahm
er die Hände hoch. »Ich weiß auch nicht. Es hat ewig gedauert. Vielleicht sehen
meine Augen deshalb so übel aus.«
Sie müssten James das selbst sagen hören, um sich vorstellen zu
können, wie überzeugend er war. Ich hakte jedenfalls nicht weiter nach. Ich
sprach auch nie wieder mit ihm über die Sache.
Aber danach wurde ich wachsamer.
Zuerst kamen die Geschichten von den Müttern seiner Schulkameraden.
Die Siebtklässler tränken, behaupteten sie. Die Achtklässler rauchten
Marihuana. Ich konnte das nicht glauben. Wir leben in einer Kleinstadt, es gibt
allerdings das College, und ich nehme an, dass daher Marihuana und Alkohol
leicht zu beschaffen sind, selbst für Mittelschüler. Aber es war offensichtlich,
dass keine der Mütter ihrem eigenen Kind so etwas zutraute. Ich jedenfalls
traute es James nicht zu.
Bei uns in der Familie gab es gewisse Regeln, James musste abends zu
einer bestimmten Zeit zu Hause sein. Spätestens um elf. Er musste mich, wenn er
unterwegs war, von seinem Handy aus anrufen, um mir zu sagen, wo er sich gerade
aufhielt. Aber ich erkannte schnell, dass ich nie Gewissheit hatte, wo er sich
wirklich aufhielt. Ich begann, ihn zu kontrollieren, rief bei den Eltern der
Freunde an, die er angeblich besuchen wollte. Einmal sagte mir bei einem
solchen Kontrollanruf eine Mutter, sie habe ihn den ganzen Abend nicht zu
Gesicht bekommen. Ich hörte die Verwunderung und das leise Mitleid in ihrem Ton
und wusste genau, was sie dachte: Michelle kann ihrem Sohn nicht
vertrauen.
Als James nach Hause kam, fragte ich ihn, wo er gewesen sei. Er
erklärte, dort, wo er gesagt habe. Ich sagte ihm klipp und klar, das sei nicht
möglich, ich hätte mit der Mutter gesprochen. Er behauptete, er wäre unten im
Souterrain gewesen und hätte Videospiele gespielt. Sie wären eine ganze Clique
gewesen, acht oder neun Jungen vielleicht. Die Mutter hätte einfach nicht
mitgekriegt, dass er auch da gewesen sei. Ich wusste, dass das nicht stimmen
konnte. Welche Mutter kümmert sich nicht darum, wer bei ihr im Haus ist? Aber
wenn man James so reden hörte, musste man ihm glauben. Wenn man ihm in die
Augen sah und den Ton seiner Stimme hörte, musste man ihm glauben. Ich war
unsicher, und er merkte es. Daraufhin spielte er den Entrüsteten. Anderen
Müttern würde es nie einfallen, bei den Eltern der Freunde anzurufen. Wieso ich
so etwas täte? Ob ich ihm etwa nicht traute?
Danach schien er mir noch mehr zu lügen. Ja, er habe den Text für
den Englischunterricht gelesen. Ich wusste, dass er ihn nicht gelesen hatte.
Ja, natürlich habe er seine Hausaufgaben gemacht. Ich fragte mich, wann. Ich
konnte nicht mehr verlangen, dass er sich zum Hausaufgabenmachen zu mir in die
Küche setzte; mein Sohn bestand darauf, in seinem Zimmer zu lernen. Und ich
sollte vor dem Eintreten klopfen. Ich habe brav geklopft, bevor ich dann sehr
schnell eingetreten bin. Meistens habe ich ihn am Computer beim Mailen mit
seinen Freunden erwischt. Ich konnte das eine oder andere Wort in den kleinen
Kästen erkennen. James sah mich jedes Mal eiskalt an und log. Er habe
recherchiert. Oder, er habe sich wegen der Hausaufgaben erkundigt. Auf seinem
Schreibtisch lag nicht ein einziges aufgeschlagenes Buch oder Heft.
Manchmal habe ich es mit Humor versucht. Manchmal war ich streng.
Ich konnte mich zur Verbündeten machen, dachte ich, oder auf den Tisch hauen.
Ich konnte die Regeln ändern oder ich konnte mich anpassen. Ich konnte mir
aussuchen, welche Kämpfe ich ausfechten wollte.
Ich sprach mit meinem Mann und erzählte ihm von meinem Verdacht,
dass James log und Alkohol trank. Das ist nur eine Phase, sagte mein Mann.
Söhne müssen sich von ihren Müttern abnabeln. Ich sei überfürsorglich und hätte
ständig etwas an ihm
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