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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Kleinen schon
jetzt Schlimmes geschehen, mit unabsehbaren Folgen für sie.
    Mike lockerte seinen Schlips und öffnete den obersten Hemdknopf, als
hoffte er, eine bessere Durchblutung seines Gehirns könnte ihm helfen, das
Problem zu lösen. Zum ersten Mal dachte er an Eindämmung und traf damit moralische, ethische und politische Entscheidungen, deren
Konsequenzen er erst später erkannte, als ihm einfiel, dass er auch etwas
anderes, etwa Aufdeckung oder Hilfe, hätte wählen können.

Ellen
    D u wartest auf den Anruf in der Nacht. Du
wartest seit Jahren. Du stellst dir die Stimme am anderen Ende vor, eine
männliche Stimme mit förmlichem Ton. Immer ist die Stimme männlich. Du
verstehst die einzelnen Wörter, aber es gelingt dir nicht, einen Satz daraus zu
machen. Es bringt Unglück, die Wörter zu Sätzen zusammenzufügen, deshalb hältst
du dich damit nicht auf, sondern springst in Gedanken weiter, zu dem Moment, da
du am Telefon stehst und die Nachricht bereits erhalten hast, und fragst dich: Wie werde ich mich verhalten?
    Wirst du schreien? Das ist unwahrscheinlich. Du bist keine, die
losschreit. Du kannst dich nicht erinnern, wann du das letzte Mal laut
geschrien hast. Wirst du dann also zusammenbrechen, an die Wand gelehnt mit weichen
Knien zu Boden gleiten? Oder wirst du, wie du vermutest, erstarren, schlagartig
in totale Lähmung verfallen, über Stunden wahrscheinlich, weil sich bewegen
weiterleben hieße, und du keine Ahnung hast, wie du das nach dem Anruf schaffen
sollst.
    Aber der Anruf überrascht dich nicht mitten in der Nacht – er
erreicht dich an einem Mittwochvormittag um halb elf. Du bist schon halb zur
Tür hinaus, weil du zu einer Routinekontrolle bei der Dermatologin musst. Du
hast dir einen Tag unbezahlten Urlaub genommen, um sämtliche Arzttermine in
einem Schwung erledigen zu können. Beim Zahnarzt warst du schon, und nach
diesem nächsten Besuch bist du bei der Frauenärztin angemeldet. Für die Fahrt
zur Dermatologin braucht man fünfunddreißig Minuten, der Termin ist um elf, und
Dr. Carmichael ist sehr
pünktlich. Mit keinem Gedanken bist du in diesem Augenblick bei deinem Sohn,
der in einem Internat in Vermont bestens aufgehoben ist, von Leuten umsorgt,
denen du mittlerweile große Achtung und volles Vertrauen entgegenbringst. Du
hast deine Schlüssel in der Hand und bist schon im Mantel, draußen ist es
eisig, wie seit Wochen, und der Frühstückstisch sieht aus wie ein Schlachtfeld,
aber das macht nichts, du kannst die Reklamesendungen, die Müslischale und den
Orangensaft auch wegräumen, wenn du nach Hause kommst, einen Moment bist du
versucht, gar nicht mehr ans Telefon zu gehen, den Anruf einfach dem
Anrufbeantworter zu überlassen. Aber dann fällt dir ein, dass es Dr. Carmichaels Praxis sein könnte,
dass die Dermatologin vielleicht den Termin absagen möchte, und du dann die
ganze weite Fahrt umsonst machen würdest. Also gehst du doch dran.
    Als du die Stimme hörst (ja, die eines Mannes; ja, der Ton
förmlich), sagst du dir im ersten Moment, dass du glimpflich davongekommen
bist; dies ist der erwartete Anruf und dein Kind ist nicht auf einem Highway
gestorben; und vielleicht klingt deine Stimme ein wenig zu – erleichtert . Doch dann folgt am anderen Ende der Leitung
eine Pause spürbaren Unbehagens, nach der du all die Worte, die nicht in deine
Welt gehören, wirklich hörst, Worte, die du unbedingt von dir fernhalten
wolltest: »Ihr Sohn hat einen schwerwiegenden Regelverstoß begangen. Es handelt
sich um ein sexuelles Vergehen.«
    »Wieso …?«, fragst du. »Das ist ausgeschlossen …«. Und: »Das
verstehe ich nicht …«
    Der Mann am Telefon ist geduldig, er hat deine Verwirrung vielleicht
vorausgesehen, ganz sicher dein Erschrecken. Er wiederholt die unerwünschte
Mitteilung, und du lässt dich hart auf die Bank fallen, die direkt unter dem
Wandtelefon steht und eigens dort aufgestellt wurde, damit man in Ruhe
telefonieren kann, auch wenn bestimmt keiner an ein Gespräch dieser Art gedacht
hat. Sind Sie ganz sicher? , möchtest du fragen. Kann es nicht ein Irrtum sein? Und, Ist
es denn gewiss? Aber du weißt genau, dass es unsinnig ist, solche Fragen
zu stellen. Kein vernünftiger Mensch würde so eine Nachricht der falschen
Mutter übermitteln. Wahrscheinlich bist du sogar die Letzte, die es erfährt,
wahrscheinlich sind andere weit gründlicher informiert, wahrscheinlich haben
sie bereits ausführliche Gespräche geführt und alles

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