Weil sie sich liebten (German Edition)
aufmerksam, dass wahrscheinlich keine Spuren
mehr vorhanden seien.
Im Beisein der Stationsschwester untersuchte ich das Mädchen, das
uns sagte, dass es vierzehn Jahre alt sei. Obwohl noch schwache Druckstellen im
vaginalen Bereich erkennbar waren, wurden keine Spuren von Samenflüssigkeit
im Vaginalkanal gefunden. Dennoch
entnahm die Stationsschwester die in solchen Fällen erforderlichen Proben zur
Analyse.
Nach der Untersuchung und sobald das junge Mädchen wieder
angekleidet war, versuchte ich, mit ihr über den Vorfall zu sprechen. Ich
wollte mir ein Bild von ihrer emotionalen Verfassung machen, um festzustellen,
ob eine medikamentöse Behandlung notwendig sei. Obwohl das junge Mädchen erregt
war und manchmal heftig zitterte, schien sie durchaus bei klarem Verstand zu
sein und konnte meine Fragen verstehen und beantworten. Einmal machte ich
absichtlich einen kleinen Scherz, und sie lächelte kurz. Ich bot ihr keine
Medikamente an. Das Mädchen wiederholte mehrmals, dass die Ereignisse des
fraglichen Abends »entsetzlich, entsetzlich« gewesen seien und sie nicht
darüber sprechen wolle. Da sie nicht unter polizeilicher Aufsicht stand, wurde
ihr erlaubt, von ihrem Handy aus eine Freundin anzurufen, um sich von ihr
abholen zu lassen. Soweit wir unterrichtet waren, befanden sich ihre Eltern
schon auf dem Weg zum Internat, um ihr zur Seite zu stehen.
Erst später, kurz vor Beginn des Prozesses, erfuhr ich, dass die
Blutalkoholkonzentration bei dem Mädchen, wie ein Bluttest an jenem Nachmittag
ergab, bei 0,28 Promille
gelegen hatte. Ich hatte bei der Untersuchung keinen Alkohol an ihr gerochen,
aber mir war die Diskrepanz zwischen ihrer emotionalen Verfassung und der Länge
der Zeit, die seit der vorgeblichen Vergewaltigung vergangen war, aufgefallen.
Mit anderen Worten, obwohl der Vorfall bereits vier Tage zurücklag, reagierte
sie körperlich, als hätte er soeben erst stattgefunden. Ich habe keine
ausreichende Erfahrung mit Vergewaltigungsopfern, um beurteilen zu können, ob
das ein übliches Verhaltensmuster ist, aber ich halte es für möglich, dass das,
was sich uns als höchstgradige Stresssymptome darstellte, aus der Alkoholmenge
zu erklären ist, die sie zu sich genommen hatte.
Noelle
S ilas und ich wollten uns in der Kantine
treffen. Wir haben morgen Samstagsunterricht, deshalb ist heute Abend von acht
bis zehn Studierzeit. Silas und mir bleibt nur die Zeit bis acht Uhr. Zwei,
drei Abende in der Woche haben wir diese zwei Stunden, und sie reichen uns
nicht. Sie reichen uns nie.
Ich warte draußen vor der Flügeltür der Kantine. Meistens gehen
Silas und ich zusammen hinein, nehmen uns jeder ein Tablett und schieben sie
nebeneinander auf den Metallstangen entlang. Ich habe Hunger, ich habe früh zu
Mittag gegessen. Ich habe sogar ein bisschen Kopfweh vor Hunger. Eigentlich
müsste ich auch mal aufs Klo, das abseits vom Hauptkorridor ist, aber ich gehe
nicht, weil ich es nicht verpassen will, wenn Silas zur Tür hereinkommt.
Ich warte bis Viertel vor sieben. Ich weiß, wenn ich jetzt nicht
sofort hineingehe, schließt die Kantine und ich bekomme nichts mehr zu essen.
Die Kopfschmerzen sind schlimmer geworden, und ich bin ein wenig beunruhigt.
Silas kommt nie zu spät. Ein- oder zweimal vielleicht, wenn das Training sehr
lang war, ist er fünf Minuten zu spät dran gewesen. Er stürmte völlig außer
Atem, weil er den ganzen Weg von der Sporthalle gerannt war, zur Tür herein und
schaute sich nach mir um. Aber heute Abend kommt Silas nicht.
Ich stelle mir einen Salat und eine Suppe aufs Tablett und setze
mich an einen Tisch. Die andere haben fast alle schon fertig gegessen. Ich
beobachte, wie die Jungs aus der Basketballmannschaft ihre Tabletts voller
Gläser und Teller, Bananenschalen und Hühnerknochen wegbringen. Ich würde gern
fragen, ob sie wissen, wo Silas ist, ob sie wissen, warum er sich verspätet
hat, aber es ist mir zu peinlich. Es ist mir peinlich, dass ich allein am Tisch
sitze.
Um fünf vor acht rufe ich bei Silas zu Hause an. Sein Vater meldet sich. Silas sei zum Essen nicht
nach Hause gekommen, sagt er. Er hätte seiner Mutter gesagt, er esse mit einem
Freund. Obwohl ich vermute, dass ich dieser Freund bin, sage ich nichts.
Von acht bis zehn dürfen die Schüler nicht telefonieren.
Punkt eins nach zehn rufe ich Silas auf seinem Handy an. Er meldet
sich nicht. Ich schicke ihm eine SMS , aber auf die
reagiert er auch nicht. Schließlich rufe ich noch einmal bei ihm zu Hause
Weitere Kostenlose Bücher