Weil sie sich liebten (German Edition)
Rasheed hatte ordentliche Noten, aber er
hatte sich nie speziell ausgezeichnet, weil er so viel Zeit in den Sport
investierte. Als er nach Vermont zurückkehrte, hatte er andere Ziele als noch
im Herbst.
Rasheed hängte sich seinen Rucksack über den Arm, verließ das
Collegewohnheim und stieg zu seiner ersten Stunde nach der Mittagspause den
Hügel hinauf. Shakespeare war ein ambitioniertes Thema für ihn, da er sonst
fast nur naturwissenschaftliche Fächer belegt hatte, in denen er trotz der mörderischen
Stunden im Labor gut zurechtkam. Als er die Höhe des Hügels erreicht hatte,
drehte er sich herum und blickte auf das Panorama der Stadt Boston hinunter, in
der er, so hoffte er, eines Tages einen Platz finden würde. Er glaubte nicht,
dass er eine Chance hatte an der Harvard Medical School angenommen zu werden,
aber er hatte gehört, dass ihm vielleicht ein Medizinstudium an der
Tufts-Universität oder der Universität von Boston offenstanden.
Fast jeder Typ, dem Rasheed in diesem Herbst in den ersten Woche am
College begegnet war, hatte es wegen seiner Körpergröße und seiner Hautfarbe
für selbstverständlich gehalten, dass er für die Tufts Basketball spielen
würde. Anfangs hatte er Dutzende beiläufiger Einladungen zu Pick-up-Spielen
abwehren müssen. Tatsächlich hatte er nur ein einziges Mal gespielt, seit er
auf dem Campus war: In der Sporthalle, ganz allein, hatte er Drills und Würfe
von jenseits der Drei-Punkte-Linie geübt. Es war schön gewesen, wieder einmal
einen Ball zu halten, aber danach fühlte er sich leer und tat sich ein wenig
leid, genau das, wovor sein Vater ihn gewarnt hatte. Das Selbstmitleid dürfe er
sich gönnen, hatte sein Vater gesagt,
wenn er sein Medizinstudium erfolgreich abgeschlossen habe. Er rechnete damit, dass Rasheed bis dahin über
die Geschichte hinweg sein würde.
Rasheed war früh dran für das Seminar. Er blieb draußen vor dem
Backsteinbau stehen, in dem die Literaturwissenschaft untergebracht war, obwohl
es jetzt, im November, schon sehr kalt war und er nur ein Sweatshirt trug. Er
hatte Probleme, seine überlangen Beine unter die niedrigen Schreibpulte zu
klemmen und konnte am Ende der Sitzung oft kaum noch die Knie strecken. Um
nicht zu lange leiden zu müssen, ging er deshalb immer erst in der letzten
Minuten in den Seminarraum, obwohl er wusste, dass manche Dozenten das als
Widerwillen oder gar Unverschämtheit auffassten.
Scheiß auf den Brief , dachte er, während
er einen Fuß auf der Steinstufe hin und her schob.
Die Mannschaft hatte gewusst, dass die Faye Academy ein schwerer
Gegner war, und der Coach war ganz heiß auf einen Vergleich gewesen. Wenn sie
Faye schlagen konnten, würden sie später vielleicht auch die Vermont Academy
schlagen können und das Turnier erreichen. Avery hatte lange nicht mehr so ein
phantastisches Trio wie J. Dot,
Rob und Silas gehabt. Rasheed war auf dem besten Weg, ein ebenso wertvoller
Spieler zu werden, und genauso sein bester Freund Irwin. J. Dot verlieh dem Spiel besondere Klasse, und Rasheed
beobachtete ihn auf Schritt und Tritt, obwohl er ihn nicht besonders mochte; er
wusste, dass er von ihm eine Menge lernen konnte. J. Dot kriegte alle Rebounds und hatte einen gewaltigen
Zug zum Korb. Er spielte mit einer lässigen Arroganz, wie Rasheed sie bei einem
Weißen noch nie gesehen hatte.
Aber das Spiel gegen Faye war von Anfang an nicht gut gelaufen für
Avery. Viermal trafen sie den Korb
nicht, einmal ging der Ball sogar ins Aus. Sie waren nervös, und der Coach
sagte, sie sollten sich abregen. Faye spielte eine phantastische Verteidigung
und hielt Avery in einem Half-Court-Spiel in dessen Spielzone fest. Silas traf
seine Dreier nicht, und Rasheed merkte, dass er immer frustrierter wurde, je
häufiger er verfehlte. Einmal rutschte Rob aus und verlor den Ball. Dann gelang
es Irwin zweimal hintereinander, Würfe von Faye abzublocken. Rasheed holte den
Rebound und versenkte zwei Dreier – Prachtwürfe, ohne Randberührung –, und zum
ersten Mal im Spiel führte Avery mit einem Punkt. Er hörte die Fans auf den Tribünen johlen. Drei Minuten noch bis zur
Halbzeit. Wenn Avery mit vier oder vielleicht sogar fünf Punkten Vorsprung in
die Kabinen gehen konnte, würde die Mannschaft gewinnen, das wusste Rasheed.
Sie brauchte immer fast die ganze erste Halbzeit, um zur Ruhe zu kommen und
ihren Rhythmus zu finden, aber wenn sie das schaffte, dann siegte sie. In der
letzten und in dieser Spielzeit war es oft so
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