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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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erstaunt
ich war, dass gleich hinter dem Berg, auf dem wir standen, noch einer war, den
man von unten gar nicht sehen konnte. Und man hatte den Eindruck, dass hinter
diesem Berg ein noch höherer war, und immer so weiter, sodass man jedes Mal,
wenn man den Gipfel erreichte, sah, dass man noch einen Berg hinaufmusste. Aber
dann überlegte ich mir, dass irgendwo ein Gipfel sein muss, der höher ist als
alle anderen, und ich habe einen Moment darüber nachgedacht, ob ich den jemals
erreichen werde, diesen höchsten Gipfel.
    Es wird hier jetzt immer kälter. Ich bin zu Fuß nach Hause gegangen.
Es war niemand da. Ich habe meinen Daunenparka genommen und bin den Weg hier
hochgegangen. Im Rucksack habe ich ein bisschen was zu essen. Ich glaube, ich
kann es hier aushalten, bis ich den Mut finde, wieder hinunterzusteigen und zu
erfahren, dass ich geflogen bin und mein Vater mich am liebsten verprügeln
würde. Ich kann dann sicher nicht mehr mit ihnen in einem Haus leben,
vielleicht finde ich einen Freund, bei dem ich wohnen kann, bis ich meinen
Abschluss an der öffentlichen Schule gemacht habe, obwohl ich überhaupt nicht
weiß, wozu, weil ich ja jetzt bestimmt an keiner  Uni mehr genommen werde.  Vielleicht gehe ich einfach aus Avery weg und
suche mir irgendwo einen Job und eine Wohnung, und das war’s dann. Woanders
weiß kein Mensch etwas über mich und über das, was passiert ist, und ich kann
mir vormachen, dass ich es auch langsam vergesse, aber das schaffe ich
natürlich nie, weil ich immer an dich denken und mir Gedanken machen werde, wo
du gerade bist, und weil ich weiß, dass du meine große Liebe bist und ich dir
so wehgetan habe, wie ein Mensch einem anderen nur wehtun kann. Ich kann mir
wirklich nicht vorstellen, dass ich dir etwas Schlimmeres hätte antun können.
Das ist unmöglich.
    Aber wenn ich jetzt nur an die schönen Zeiten denke, wird mir
vielleicht ein bisschen wärmer. Ich habe vergessen nachzuschauen, wie kalt es
draußen ist, ich glaube, es ist sicher unter null, vielleicht minus fünf oder
so, und ich hole mir wahrscheinlich ein paar Frostbeulen, aber das wäre ja
nicht das erste Mal. Einmal, als ich bei dir im Wohnheim saß und du die Treppe
herunterkamst, hast du einen kurzen Rock mit einem Gürtel um die Hüften
getragen, deine Beine waren braun von der Sonne, und ich habe mich gefragt, wie
du so schön braun geworden bist. Du hattest ein dunkelblaues Polohemd mit
Streifen an, es betonte deine wunderschönen Brüste, und als ich die Ohrringe
bei dir sah, wusste ich, dass du sie für mich angelegt hattest. Ich bin
aufgesprungen und habe dich einfach geküsst. Du bist ein Stück zurückgewichen
und hast gelacht, wie du das gern tust, aber du hast dich gefreut, dass ich das
getan hatte, obwohl Leute im Korridor waren, die uns sehen konnten.
    Du hast gesagt, du würdest mich ewig lieben. Ich glaube, das gilt
jetzt nicht mehr. Eigentlich kann niemand einem anderen versprechen, dass er
ihn ewig lieben wird, weil man ja nie weiß, was passieren kann, zu was für
schrecklichen Sachen der Mensch, den man liebt, vielleicht fähig ist. Wie ist
das, wie fühlt man sich, wenn man jemanden auf einmal nicht mehr liebt? Heute
liebst du ihn noch und morgen nicht mehr, weil du ihn auf einem Band gesehen
hast? Wohin verschwindet die ganze Liebe? Verpufft sie mit einem Schlag, oder
wird dir, jedes Mal wenn du dir das Band vorstellst, qualvoll ein Stück Liebe
herausgerissen, bis nichts mehr übrig ist? Aber auch wenn du mich nicht lieben
kannst, weiß ich, dass ich dich immer lieben werde, obwohl ich dir nie ewige
Liebe hätte schwören sollen, weil ich das, was ich getan habe, bestimmt nicht
getan hätte, wenn ich dich in dem Moment geliebt hätte. Trotzdem kann ich mich
nicht erinnern, dich auch nur eine Sekunde nicht geliebt zu haben, und man kann
ja einen Menschen auch lieben, wenn man gerade nicht an ihn denkt, oder?
    Meine Finger werden langsam steif, während ich in dieses Heft
schreibe, das eigentlich mein Matheheft ist. Was ich da mitgeschrieben habe,
ist ziemlich schlampig, ich brauche mir nur die Notizen am Anfang anzuschauen,
um zu sehen, dass ich nicht richtig aufgepasst habe. Ich frage mich, woran ich
an dem oder jenem Tag gedacht habe, als ich eigentlich hätte aufpassen müssen.
Ich verstehe nicht mal, was ich da aufgeschrieben habe. Wenn ich darüber eine
Arbeit schreiben müsste, würde ich durchfallen.
    Aber wenn ich über dich eine Arbeit schreiben müsste, würde ich mit
null Fehlern

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