Weil sie sich liebten (German Edition)
an.
Wieder meldet sich sein Vater. Silas schlafe schon. Er habe ein schweres
Training hinter sich. Ob ich wolle, dass er ihn weckt.
Nein, antworte ich. Nein, nein, auf keinen Fall.
Am nächsten Morgen sehe ich Silas weder in einem der Gebäude
noch draußen auf den Fußwegen des Geländes. Wir sind nicht in denselben
Klassen. Ich bin ein bisschen besser als er, aber darüber versuche ich nicht zu
sprechen. Ich gehe früh zur Sporthalle hinunter, um ihn vielleicht vor dem
Spiel noch zu erwischen und zu fragen, was gestern Abend los war, warum er
nicht gekommen ist. Wahrscheinlich, denke ich mir, hat er sich schlecht gefühlt
und ist direkt nach Hause und ins Bett gegangen. So schlecht vermutlich, dass
er ganz vergessen hat, mich anzurufen.
Als ich in der Sporthalle ankomme, ist Silas schon mit den
anderen Spielern auf dem Feld. Er übt Korbleger und Würfe von jenseits der
Drei-Punkte-Linie. Er läuft viel kompromissloser als alle anderen, als wollte
er direkt durch die gefliesten Wände stoßen. Ich stelle mich an den
Spielfeldrand und warte darauf, dass er mich bemerkt.
Er ist nervös, denke ich. Es ist ein wichtiges Spiel.
Ich setze mich in die erste Reihe, während allmählich andere Kids
kommen und die Plätze hinter mir einnehmen. Ich halte nach Mr. Quinney
Ausschau, er sitzt meistens auf demselben Platz, aber ich kann ihn nirgends
entdecken. Silas kommt an die Spielerbank direkt vor mir, und wieder bemerkt er
mich anscheinend überhaupt nicht. Ich weiß, dass man einen Spieler nicht
ablenken darf, wenn der Trainer mit der Mannschaft spricht, also mache ich mich
nicht bemerkbar. Sicher wartet Silas nach dem Spiel auf mich.
Ich muss an ein wildes Tier denken, wenn ich Silas auf dem
Spielfeld beobachte. Ich weiß nur nicht recht, an welches Tier genau er mich
erinnert, denn keines bewegt sich wie Silas, und Tiere wirken eigentlich nur
ganz selten wütend. Verstohlen, ja. Schlau, ja. Aber wütend – nein. Silas ist wütend. Ich spüre seine Wut, sie
geht in Wellen von ihm aus. Ich erkenne sie auch in seinen Augen. Ich weiß,
dass irgendetwas Schlimmes passiert ist, und versuche zu erraten, was es sein
könnte. Ist er wütend auf Coach Blount? Ist er wütend auf seinen Vater, was
erklären würde, warum Mr. Quinney nicht zum Spiel gekommen ist? Oder ist Silas
aus irgendeinem merkwürdigen Grund vielleicht wütend auf mich?
Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Basketball in hohem Bogen zur
Tribüne fliegen. Er trifft eine Frau seitlich im Gesicht, und sie kippt
seitwärts auf die Bank. Sie fuchtelt abwehrend mit den Armen, und eine andere
Frau fängt sie auf. Eine Sekunde lang ist es ganz still. Alle sind aufgestanden
und blicken in Richtung der Frau, die vom Ball getroffen wurde. Die Leute murmeln
Silas’ Namen. Die Frau wird von Mr. Bordwin,
unserem Schulleiter, der wohl neben ihr gesessen hat, durch den Gang
hinausgeführt.
Als ich mich wieder zum Spielfeld drehe und nach Silas suche, ist er
nicht mehr da.
Rasheed
R asheed blickte wieder auf den Brief, der
ausgebreitet auf seinem Schreibtisch voller Papiere und Bücher lag, und
verspürte flüchtig das Interesse und den Wunsch, endlich jemandem zu sagen, was
er schon vor beinahe zwei Jahren hatte sagen wollen. Er erstickte den Impuls
schnell. Er hatte nichts gegen die Wissenschaftlerin von der Universität
Vermont; er wollte nur nicht mehr an den Skandal denken. Er wollte sich nicht
von Neuem seiner eigenen Wut aussetzen. Er war inzwischen an einem anderen
Punkt in seinem Leben. Der Basketballsport lag hinter ihm. Er war früher einmal
ein Teil von ihm gewesen, wie ein Arm, den er einmal gehabt und dann bei einem
Unfall verloren hatte. Er wollte nicht der sein, der ohne Arm herumlief und
sich von jedem fragen lassen musste, was denn passiert sei.
Aber die Erinnerungen fraßen trotzdem immer noch an ihm: Diese
Ungerechtigkeit; den Coach einfach zu feuern und alle ausstehenden Spiele
abzusagen. Rasheed war in der elften Klasse gewesen und da er nie die Chance
bekommen hatte, an einem Spiel teilzunehmen, war es, wie er feststellen musste,
nicht einmal den Scouts der kleinen Universitäten möglich gewesen, auf ihn
aufmerksam zu werden. In dem allgemeinen Chaos nach dem Skandal war Rasheed
nach Hause gefahren, nach North Carolina, um mit seinem Vater zu sprechen,
einem Arzt mit einer Allgemeinpraxis in Greensboro. Der hatte Rasheed gedrängt,
sich in Vorbereitung auf das Medizinstudium den Rest der Schulzeit auf die
Naturwissenschaften zu konzentrieren.
Weitere Kostenlose Bücher