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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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etwas und bat Gary die Stelle
abzutasten. Er zog seine Handschuhe aus. Er konnte die schwachen Konturen eines
Stiefelabdrucks ausmachen, der während eines früheren Schneefalls – des
gestrigen vielleicht – hinterlassen worden und gefroren war. Gary ertastete ihn
auch. Und Owen wusste genau, was sein Bruder dachte, als er Owen fragte, ob es
ihm lieber wäre, wenn er allein weiterginge, während er – Owen – unten im Haus
wartete. Nein, sagte Owen. Mehr nicht. Nur Nein.
    Owen schätzte, dass ihnen noch ungefähr eine Stunde blieb, bevor es
für einen sicheren Abstieg zu dunkel wurde. Als Gary vorschlug, noch eine halbe
Stunde weiterzugehen und dann umzukehren, tat Owen, als stimmte er zu. In
Wirklichkeit hatte er nicht vor, auch nur einen Schritt von diesem Weg zu weichen,
solange er seinen Jungen nicht gefunden hatte.
    Je höher sie stiegen, desto stärker wurde der innere Druck, der ihn
vorantrieb. Er wusste, dass die Temperatur in der vergangenen Nacht nicht über
minus acht Grad gestiegen war. Er vermutete, dass auch Gary das im Kopf hatte,
wenngleich sie nicht darüber sprachen. Silas konnte diese Temperaturen überlebt
haben, wenn er sich mit den Mitteln, die sich ihm boten, einen schützenden
Unterschlupf geschaffen hatte. Aber die Tatsache, dass er nicht vom Berg
heruntergekommen war, ließ Owen fürchten, sein Sohn könnte verletzt sein. Oder
sonst irgendwie beeinträchtigt.  Von
Sinnen vielleicht.
    Owen konnte nicht sagen, wie lange sie noch aufgestiegen waren. Er
konnte sich nicht erinnern, ob sie die halbe Stunde überschritten, auf die sie
sich zuvor geeinigt hatten.
    Owen wusste sofort, dass der orangefarbene Fleck auf dem
Waldboden ein Stück von Silas’ Parka war, und als er losrannte, den Hang
hinauf, betete er inbrünstig, Silas möge die Jacke einfach im Wald liegen
gelassen und an einen anderen Ort gegangen sein. Oder er möge nur schlafen,
wenn er wirklich dort lag. Oder sie könnten ihn sofort wieder erwärmen, wenn er
schon unterkühlt sein sollte. Es gefiel ihm nicht, dass nur ein Teil des Parkas
sichtbar war, aber als er näher kam, war er sicher, dass er gleich den Rest der
Jacke sehen würde und in ihr den lebenden Silas.  Alle diese Gedanken schossen Owen blitzartig
durch den Kopf. Als er den orangefarbenen Fleck erreichte, ließ er sich nach
vorn fallen, als könnte er so schneller zu seinem Sohn gelangen.
    Er fegte den Schnee von Silas Gesicht und aus all den steif
gefrorenen Einschnitten von Silas’ Jacke. Owen hatte schon oft erfrorene Tiere
im Wald gesehen – Vögel, Füchse, Eichhörnchen –, und die Starrheit war jedes
Mal wieder erschreckend. Er rief Silas’ Namen und drückte ihn an seine Brust,
um ihn warm zu halten. Er wiegte sich vor und zurück. Als Gary ihn erreichte,
saß er weinend über seinen Sohn gebeugt und küsste sein Gesicht. Gary kniete
mit dem Funkgerät in der Hand neben dem Leichnam nieder.
    Owens Sohn. Sein einziges Kind. Tot. Gestern morgen noch war Silas
am Leben gewesen, hatte am Küchentisch gesessen und gefrühstückt. Hätte Owen
nur daran gedacht, schon gestern, als Gary das erste Mal vorbeigekommen war,
nach Fußabdrücken zu suchen, dann hätte er Silas gefunden und mit heruntergenommen.
    »Warum?«, heulte Owen in den Wind.
    Zwischen Owen und Gary hängend wog Silas tausend Pfund. Owen
hatte keine Kraft mehr in den Beinen. Es war, als bewegten sie sich in
Zeitlupe. Sie stolperten und rutschten, und selbst das schien fremd und unwirklich. Es ist nicht wahr , sagte sich Owen immer wieder.
Immer wieder. Es ist einfach nicht wahr.
    Owen und Gary trugen Silas den Berg hinunter. Owen schaute zum
Küchenfenster und konnte Anna erkennen. Sie drückte beide Hände auf den Mund,
aber der Schrei ließ sich nicht zurückhalten. Owen hielt seinen Sohn, er konnte
nicht zu seiner Frau gehen. Aber sie kam herausgerannt, auf Strümpfen rannte
sie in den Schnee hinaus, die Arme vor sich ausgestreckt kämpfte sie mit den
Schneemassen, um zu ihnen zu gelangen, während Owen und Gary noch schwankend
und rutschend das steile Hangstück am Ende des Wegs herunterkamen. Owen
wünschte sich, er würde auf der Stelle tot umfallen, um nicht das Gesicht
seiner Frau sehen zu müssen, wenn sie ihren Sohn erblickte.
    Gary und Owen brachten Silas ins Haus und legten ihn auf den Tisch
im Esszimmer, und Anna versuchte, ihrem Sohn wieder Leben einzuhauchen. Owen
wusste, dass sie glaubte, sie könnte das, aber die Männer, die um den Tisch
herumstanden, wussten alle, dass

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