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Weil sie sich liebten (German Edition)

Weil sie sich liebten (German Edition)

Titel: Weil sie sich liebten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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mitgemacht hat.
    Ich muss jetzt wirklich los, ich hab meine Stunde praktisch schon
versäumt, aber das ist ganz okay, weil meine Zimmergenossin ja für mich
mitgeschrieben hat, und die Lehrerin ist sowieso ziemlich lahm. Also, wenn Sie
sonst noch was brauchen, können Sie mich ja anrufen, und anstatt Sie extra hier
runterfliegen zu lassen, könnten die doch einen Teil von dem Geld dafür verwenden,
für die Interviews zu bezahlen. Ich finde nämlich, ich habe Ihnen hier gutes
Material geliefert, und Sie haben ja praktisch das Exklusivrecht. Aber ich
mein, so wichtig ist es jetzt auch wieder nicht, ich sag’s einfach nur mal.

Noelle
    M rs. Gorzynski kommt zu mir ins Wohnheim,
um mich abzuholen. Sie sagt, dass sie mich in der Verwaltung brauchen. Es dreht
mir vor Angst fast den Magen um, als ich in den Korridor hinaustrete. Ich weiß,
dass Silas vermisst wird und die Suche nach ihm eingeleitet wurde. Den ganzen
Tag bin ich auf dem Gelände herumgelaufen. Ich war an jedem Ort, an dem wir mal
zusammen waren. Mrs. Gorzynski
erklärt mir, dass Mr. Bordwin
mich sprechen möchte. Ich soll Jacke und Stiefel anziehen, sagt sie, dann gehen
wir zusammen über den Hof.
    Ich frage sie, was los ist, und sie antwortet, ich hätte nichts
zu fürchten, er wolle nur mit mir darüber sprechen, was in den letzten Tagen
vorgefallen sei. Ich weiß, dass sie lügt. Wir gehen nebeneinanderher, und sie
sorgt dafür, dass das Gespräch nicht abreißt, indem sie mich fragt, wie mir
dieses Schuljahr meine Stunden gefallen, was für Pläne ich für das nächste Jahr
habe, ob ich in letzter Zeit in einem Konzert gespielt habe, bei einem sei sie
gewesen, und es sei wunderschön gewesen, und dann sind wir da, im
Verwaltungsgebäude, das ich kaum je von innen gesehen habe, und treten durch
die Tür ins Direktorat. Mr. Bordwin
steht auf. Er versucht, mir zuzulächeln, um mich zu beruhigen, obwohl er weiß,
dass es nach dem, was er mir zu sagen hat, vielleicht lange, lange keine
Beruhigung mehr geben wird. Mrs. Gorzynski
drückt mir die Hand, bevor sie verschwindet, und das allein sagt mir eigentlich
schon alles, was ich wissen muss.
    »Bitte setzen Sie sich«, sagt Mr. Bordwin.
Und ich setze mich.
    »Sie wissen, dass Silas vermisst wird«, sagt er.
    Tränen schießen mir in die Augen. »Oh Gott«, sage ich leise vor mich
hin.
    »Wir haben ihn vor einer Stunde gefunden. Es tut mir  leid«, sagt er. »Er war …« Mr. Bordwin hält inne. »Silas ist tot.«
    »Nnneieieiein«, schreie ich.
    Unmöglich , denke ich. Unmöglich. Unmöglich.
    »Er ist einen Fußweg nicht weit hinter dem Hof seiner Eltern
hinaufgestiegen. Vielleicht hat er sich in der Dunkelheit verlaufen. Er hat im
Wald übernachtet und ist erfroren«, sagt Mr. Bordwin.
    Heftige Krämpfe in Brust und Magen schnüren mir die Luft ab. Ich
drehe mich herum und übergebe mich auf den Fußboden. Mr. Bordwin ruft Mrs. Gorzynski,
die mit Zellstofftüchern in beiden Händen hereingelaufen kommt. Sie knallt die
Tür hinter sich zu, damit niemand etwas sehen kann.
    Ich komme wieder zu Atem. Vielleicht, denke ich, sterbe ich
jetzt auch.
    Es ist unmöglich. Es ist unmöglich.
    Mr. Bordwin
hält mich ganz fest an der Schulter. Ich  senke den Kopf und weine laut. Mein Körper
zittert, und Mr. Bordwin
versucht, mich aufrecht zu halten. »Es tut mir so unendlich leid«, sagt er.
    Er drückt mir einen Packen Zellstofftücher in die Hand. Ich wische
mir den Mund ab und schnäuze mich.
    »Ich wollte es Ihnen sagen, bevor es publik wird«, erklärt er
und entfernt sich vorsichtig von mir, um zu seinem Platz zurückzukehren. »Ich
wollte nicht, dass Sie es heute Abend von Mitschülern in Ihrem Wohnheim
erfahren. Oder aus dem Fernsehen.«
    Ich hülle meinen Kopf in meine Arme. Die Welt soll anhalten,
sich zurückdrehen. Mir gestern zurückgeben, den Moment, als Silas den Fußweg
hinaufgestiegen ist. Soll mir erlauben, ihn zu suchen und mit ihm wieder
herunterzukommen; mit ihm zu gehen und, in seinen Armen geborgen,
einzuschlafen.
    »Wo ist er?«, frage ich.
    Mr. Bordwin
nennt mir das Bestattungsunternehmen. Er sagt, dass eine Obduktion vorgenommen
werden muss.
    Ich reiße weit den Mund auf, als wollte ich schreien. Die
Vorstellung, dass sie Silas aufschneiden werden, ist entsetzlich.
    »Sie brauchen die Einzelheiten nicht zu wissen«, sagt er schnell.
    »Warum machen sie eine Obduktion?«, frage ich.
    »Um die Todesursache zu bestimmen.«
    »Aber Sie sagen doch …« Ich kann das Wort nicht laut sagen.

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