Weil sie sich liebten (German Edition)
Erfroren .
»Das vermutet man. Aber da er eines unnatürlichen Todes
gestorben ist … Soll ich Ihre Eltern anrufen? Damit sie Sie abholen kommen?«
»Ich muss Silas’ Mutter sehen«, sage ich.
»Silas’ Mutter?«, fragt Mr. Bordwin.
Ich nicke.
»Ich glaube nicht, dass das geht … zumindest nicht heute Abend. Es
geht ihr nicht gut, wie Sie sich sicher vorstellen können.«
Ich stelle es mir vor. Ich möchte es mir nicht vorstellen.
Ein Bild schiebt sich vor alle anderen. Von Silas, wie er vor
mir wegläuft, die Treppe hinauf und zur Tür hinaus. Da habe ich ihn zum letzten
Mal gesehen. »Mein Gott.« Ich beginne wieder zu weinen.
»Ich rufe jetzt Ihre Eltern an. Sie können hierbleiben, bis sie
kommen. Ich glaube, es wäre das Beste für Sie, wenn Sie vorläufig das Internat
verlassen. Sie brauchen Ruhe und Erholung.«
»Nein«, widerspreche ich fest. »Ich muss hier sein, bei Silas. Sie
brauchen meine Eltern nicht anzurufen. Ich komme gut zurecht.«
Mr. Bordwin macht ein skeptisches Gesicht.
»Warum ist Silas den Berg hinaufgestiegen?«, frage ich.
»Das wissen wir nicht«, antwortet Mr. Bordwin, aber er schaut mich
nicht an dabei. »Wir können nur spekulieren. Die letzten Tage werden äußerst
schwierig für ihn gewesen sein.«
»Silas hatte Schwierigkeiten?«, frage ich.
»Ja, Silas hatte Schwierigkeiten.«
»Was hat er denn getan?«
»Jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt, um darüber zu sprechen«,
erklärt Mr. Bordwin. Ich erkenne Entschlossenheit in seiner Miene und noch
etwas anderes. Verwirrung. Erschrecken vielleicht. Es überrascht ihn, dass ich
nichts von Silas und dem Band weiß. Und ich weiß ja auch nichts. Zu dem
Zeitpunkt noch nicht. Erst später erfahre ich, was geschehen ist, wenn ich wieder
in meinem Zimmer im Wohnheim bin, wenn meine Zimmergenossin die Tür abschließt
und zu mir ins Bett schlüpft und mich fest in die Arme nimmt, während sie mir
beinahe flüsternd von Silas und dem Mädchen und den Bandaufnahmen erzählt. Sie
hält mich stundenlang fest, während ich lerne, dass man jemandem böse sein
kann, der gerade gestorben ist, und sich selbst hassen kann, weil man auf
jemanden böse ist, der gerade gestorben ist. Ich lerne, dass man glauben kann,
man werde vor Kummer sterben, sich am eigenen Atem verschlucken, sodass dieser
einfach aufhören wird zu fließen, und dass man sich einbilden kann, man hätte
das Schreckliche verhindern können, wenn man nur davon gewusst hätte. Ich kann
mich fragen, wie es kommt, dass Silas, der mich geliebt hat, mir das antun, von
mir gehen konnte, ohne wenigstens ein Wort des Abschieds. Und ich kann
erkennen, auch wenn ich erst siebzehn bin, dass mein Leben nie wieder sein wird
wie früher. Nie wieder. Ganz gleich, was andere mir einreden wollen.
Ich möchte nicht, dass meine Mutter und mein Vater herkommen.
Ich möchte nicht, dass sie erfahren, was Silas Schreckliches getan hat, denn
dann werden sie nie begreifen, was für ein guter Mensch er war und wie sehr ich
ihn geliebt habe.
Wegen der Presse gibt es keine Totenwache. Aber die Quinneys
sind katholisch, da muss es ein Begräbnis gegeben. Wer einen Schülerausweis von
der Avery hat, darf am Gottesdienst teilnehmen. Meine Zimmergenossin geht mit
mir zusammen hin. Sie hält mich fest bei der Hand, als wir die Treppe zur
katholischen Kirche hinaufgehen, in der ich noch nie gewesen bin. Rundherum
sind überall Leute von den Zeitungen und den Fernsehsendern, die uns
fotografieren und uns Fragen zurufen. Als wir die Kirche betreten, sehe ich
ganz vorn den aufgebahrten Sarg. Er ist geschlossen. Vorn höre ich Silas’
Mutter weinen, sehen kann ich sie nicht. Meine Zimmergenossin und ich setzen
uns irgendwo in der Mitte der Kirche, aber ich nehme den Platz direkt am Gang.
Ich will Silas nahe sein, wenn sie ihn hinaustragen.
An den Gottesdienst erinnere ich mich nicht. Ich höre nicht, was
der Priester sagt. Es kommt mir unwichtig vor. Später werde ich dies und jenes
in der Zeitung lesen. Der Priester erwähnt den Skandal mit keinem Wort. Man
erinnerte sich Silas’ so, wie jede Mutter und jeder Vater ihren Sohn erinnert wissen möchten.
Am Ende der Trauerfeier heben die Sargträger den Sarg in die
Höhe. Das letzte Mal, dass Silas mir nahe sein wird. Sie setzen sich in
Bewegung, gehen über den abgewetzten Teppich den Gang hinunter. Als sie an mir
vorbeikommen, hebe ich den Arm und berühre den Holzsarg.
Dann trete ich aus der Bank und folge ihm. Hinter mir erkenne ich
Silas’
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