Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
Vom Netzwerk:
das Siegel nicht an, stattdessen stiegen wir durch das Fenster. Ich erinnere mich deutlich, wie glücklich und sicher ich mich fühlte, als wir die Wohnung betraten. Sie war genauso, wie wir sie verlassen hatten: Es lagen zwar überall Sachen herum, doch es war ein wunderbares Gefühl, wieder da zu sein. Jetzt konnten wir in unseren eigenen Betten schlafen. Wir dachten auch, dass wir endlich baden dürften, aber Mutter und Vater meinten, dies sei nicht die Zeit für die normalen Rituale. Wir wurden bei Kerzenlicht zu Bett gebracht und fühlten uns wie im Paradies.
    Am nächsten Morgen standen wir auf, als die Sonne schon hoch am Himmel stand, und überlegten die nächsten Schritte. Wir wussten, dass wir nicht sehr lange ohne Verpflegung in der abgeschlossenen und versiegelten Wohnung bleiben konnten. Wir würden gezwungen sein, wieder auf den Dachboden zurückzukehren. Wir nutzten die Gelegenheit, um zu baden und die Wohnung etwas aufzuräumen. Als wir noch überlegten, was wir tun sollten, ging plötzlich jemand am Fenster vorbei. Wir hielten den Atem an. Meine kleinen Schwestern klammerten sich an die Beine meiner Mutter. Ich stand neben der Tür und lauschte. Vater, der extrem kurzsichtig war und eine Brille mit sehr dicken Gläsern trug, hatte die Angewohnheit, wenn er aufgeregt war, einen Finger auf den Steg der Brille zu legen und sie hinunterzudrücken, da er dann besser sehen konnte. Genau das tat er jetzt und spähte aus dem Fenster. Er sah einen Schatten vorbeihuschen und bedeutete uns augenblicklich, still zu sein und uns zu bücken.
    Einen Moment später hörten wir ein Klopfen am Fenster, und eine Stimme sagte: »Macht die Tür auf, ich bin's, Mena-chem.«
    Vater zog den Vorhang etwas zurück, und wir sahen meinen Onkel, Vaters jüngsten Bruder. Er war ein gut aussehender Mann um die zwanzig, mit blauen Augen. Eine Locke kräuselte sich über seiner Stirn. Er sah fast überhaupt nicht jüdisch aus, da er einen hellen Trenchcoat anhatte, wie die jungen Christen. Die jüdischen Männer in unserer Stadt trugen für gewöhnlich dunkle Sachen und in der Öffentlichkeit immer einen Hut. Zu unserer Überraschung trug mein Onkel weder einen Hut noch einen gelben Stern.
    Mein Vater gab ihm durch Gesten zu verstehen, er solle durch das Fenster steigen, das er für ihn öffnete, denn er wollte das Türsiegel nicht beschädigen.
    Menachem kletterte mühelos durch das Fenster und landete mit einem schnellen Sprung im Zimmer. Wir umarmten ihn voller Zuneigung, und nachdem wir uns etwas beruhigt hatten, berichtete er, was mit unseren vielen Verwandten geschehen war. Während wir uns auf dem Dachboden versteckt hatten, waren sämtliche Mitglieder der Familie, bis auf ihn, deportiert worden, auch zwei Onkel mit ihren kleinen Kindern. Die beiden älteren Söhne meines Onkels waren in die Berge, zu den Partisanen, geflohen. Menachem war gekommen, um sich zu verabschieden, ehe er ihnen folgte.
    Kaum zehn Minuten waren vergangen - die Erwachsenen unterhielten sich flüsternd, und wir Mädchen lauschten angestrengt -, da hörten wir, wie sich jemand am Türschloss zu schaffen machte. Dann wurde die Tür aufgestoßen, und zwei Polizisten kamen herein.
    Wir erstarrten vor Schreck. Ich dachte: Das ist das Ende. Schade, dass wir noch die harte Zeit unter dem Dach durchgemacht haben, wo unser Ende nun doch gekommen ist, und seht, wie dumm wir waren. Es ist unsere eigene Schuld, dass wir erwischt wurden, denn wir hätten den sicheren Unterschlupf nicht verlassen sollen.
    Die Männer befahlen uns, etwas Verpflegung und ein paar Kleidungsstücke einzupacken und ihnen dann zu folgen, aber wir hatten kaum etwas zur Hand, weil wir alles auf dem Dachboden gelassen hatten.
    Schweigend gingen wir neben unserem Onkel, kamen durch vertraute Straßen, die jetzt völlig verlassen waren. Auf dem Weg stießen andere zu uns, manchmal ganze Familien, die man in ihren Verstecken gefunden hatte und die genauso verängstigt aussahen wie wir.
    Vater flüsterte vor sich hin: »Das ist symbolisch! Heute ist tischa be-aw , und unsere Zerstörung ist nah. Wohin bringen sie uns? Was wird mit uns geschehen?«
    Als ich Vaters Gemurmel hörte, überlief mich ein Schauder. Ich umklammerte die Hand meiner Schwester Rachel. Vater trug die kleine Miriam, und so marschierten wir, und die Polizisten trieben uns zur Eile an. Wir wussten, es gab keinen Weg zurück. Wir würden alle dorthin geschickt werden, wo die anderen bereits waren.
    »Das also ist geschehen,

Weitere Kostenlose Bücher