Weine ruhig
der Deportationen besuchten wir Kinder weiterhin die jüdische Schule. Nur dort konnten wir für ein paar Stunden die Anspannung und die Angst vergessen und uns der Illusion hingeben, alles sei normal. Aber jeden Morgen kamen weniger Schüler zum Unterricht. Ich ging jeden Tag mit meiner guten Freundin Yehudit zur Schule, die im Nachbarhof wohnte. Wir waren zusammen aufgewachsen, und ich bewunderte ihre Schönheit und Selbstsicherheit. Sie war mindestens einen Kopf größer als ich, ein hübsches schlankes
Mädchen mit dicken Zöpfen, die ihr bis zur Taille reichten. Wenn wir die Hauptstraße überquerten, beide mit dem gelben Stern am Ärmel, klammerte ich mich an sie, um Kraft und das Gefühl von Sicherheit von ihr zu borgen. Aber jetzt schien sogar sie etwas von ihrem Stolz verloren zu haben und weniger stark zu sein. Yehudit kam aus einer der reichsten Familien der Stadt. Ihr Vater hatte gute Beziehungen zu den Stadtältesten, und ihre Familie war bisher in der Lage gewesen, sich freizukaufen.
Auf dem Schulweg versuchten wir zu raten, welche Kinder an diesem Tag wohl fehlen und wie viele von uns am Ende der Woche noch übrig sein würden. Weil die Zahl der Schüler stetig abnahm, fasste man vier Klassen zu einer zusammen. Waren es früher 140 Schüler in den fünften Klassen gewesen, so waren es jetzt nur etwa fünfzehn, und so wurden wir mit den vierten und sechsten Klassen zusammengelegt. Wir lernten in drei Schwierigkeitsstufen. Einige unserer Lehrer waren entlassen oder deportiert worden, und die wenigen, die noch da waren, versuchten, uns die Situation vergessen zu lassen und uns so gut sie konnten zu unterrichten. Ein Thema, auf das sie sich konzentrierten, war der Zionismus. Wir sangen hebräische Lieder, die wir schon aus der zionistischen Jugendbewegung kannten, wir hörten Geschichten aus der Bibel und jüdische Legenden, und lernten, wie man den sidur liest, das Gebetsbuch. Wir erfuhren von den Unabhängigkeitskämpfen, die der jischuw- die jüdische Gemeinde in Palästina - gegen die Briten führte.
Kaum ein Tag verging, ohne dass nicht wieder ein Junge oder ein Mädchen aus unserer Klasse verschwunden war. Um Panik zu vermeiden, stellten wir weder Fragen, noch sprachen wir über die Situation außerhalb der Schule. Aber jeden Tag dachte ich, dass ich am nächsten Morgen vielleicht auch verschwunden sein würde. Wir wussten, dass einige der fehlen-
Purimfest in der jüdischen Schule von Michalovce, 1940
den Kinder deportiert worden waren, andere waren untergetaucht oder über die Grenze geflohen.
Dann kam der Tag, den wir gefürchtet hatten: Uns wurde gesagt, dass Vaters Status als »unentbehrlicher Jude« abgelaufen sei und dass wir uns darauf gefasst machen sollten, in ein Lager gebracht zu werden. Vater aber ergab sich nicht und suchte nach einem Ausweg. Unser Versteck auf dem Dachboden schien ihm eine vernünftige Lösung zu sein; schließlich war es wenige Monate zuvor sicher gewesen. Wir beschlossen also, uns auf dem Dachboden zu verstecken, auf dem wir und die wenigen noch verbliebenen jüdischen Nachbarn im Winter und an Regentagen die Wäsche zum Trocknen aufhängten, und wählten einen Bereich, der noch nicht als Versteck benutzt worden war: Dieser Bereich, im hintersten Teil des Dachbodens, war von einem großen Lagerraum aus zu erreichen, in dem die Mieter Holz als Brennmaterial für die kalten Wintermonate aufbewahrten. Er war durch eine Steinmauer vom übrigen Dachboden abgeteilt, und es gab dort ein
Nebengelass ohne Durchgangsmöglichkeit, das nur als Lagerraum benutzt wurde. Von dort aus konnte man direkt unter den Dachfirst gelangen, durch eine Öffnung, die für gewöhnlich mit Brettern verschlossen war, die in die Dachsparren eingepasst worden waren. Wer diese Luke nicht kannte, würde sie niemals finden. Wenn am Dach zerbrochene Ziegel ausgetauscht oder andere Schäden repariert werden mussten, stellte man eine Leiter unter die Öffnung, die Holzbalken bewegten sich und gaben den Zugang zum Dachfirst frei.
Eines Nachts stiegen wir die Leiter zum Dach hoch und versteckten uns dort zusammen mit drei anderen Familien. Das alles geschah wortlos und sehr vorsichtig, nur im Licht einer Taschenlampe, und draußen hielt jemand Wache. Unsere fünfköpfige Familie war die größte. Es gab noch eine Familie mit einem Jungen von etwa vierzehn Jahren, ein junges Paar, das gerade geheiratet hatte, und noch eine weitere Familie, die am nächsten Tag zu uns stieß. Wir planten, zwei oder
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