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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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Großmama? Du wurdest zu einem Zug gebracht, wie all die anderen, die ich auf den Fotografien gesehen und von denen ich am Schoah-Gedenktag gehört habe? Aber wie wurdest du gerettet?«, fragte Omer mit gedämpfter Stimme. Die Tränen stiegen ihr in Augen.
    »Warte nur, unsere Heimsuchung war noch lange nicht beendet«, sagte ich. »Nachdem man uns geschnappt hatte, entwickelten sich die Dinge auf unerwartete Weise. Und im nächsten Kapitel wirst du die Antwort auf deine Frage bekommen.«
    Weine ruhig, kleines Mädchen
    Andere Juden reihten sich in die Prozession ein. Von zwei bewaffneten Wachen eskortiert, kamen wir zu der Oberschule, die als Sammellager diente. Vor dem Gebäude war ein großer Hof mit einem zentralen Gittertor. Es herrschte eine bedrückende Stille. Wir sahen Frauen, Männer, Kinder, auch Säuglinge und alte Menschen, die in Grüppchen auf dem Hof saßen oder lagen.
    Mir fiel etwas Seltsames auf. Einige Leute lagen auf Tragbahren, auf denen der Name eines Krankenhauses zu lesen war. Ich konnte die Augen nicht von diesen Tragbahren abwenden. Mein Herz klopfte schneller, und mich befielen böse Vorahnungen. Was machten diese Menschen hier? Warum hatte man sie hierher gebracht, obwohl sie krank waren? Ich fragte meine Eltern, ob diese Leute auch »arbeiten« geschickt würden. Hatten die Ärzte eingewilligt, dass die Patienten aus dem Krankenhaus geholt wurden? Auf welche Weise sollten sie »zu den Kriegsanstrengungen beitragen«? Etwas Sonderbares ging hier vor! Der Anblick dieser Menschen, von denen einige leise stöhnten, machte mir Angst. Ich zitterte am ganzen Körper. Vater sah mich traurig an, ohne meine Frage zu beantworten. In Mutters Augen sah ich Schmerz und Hilflosigkeit.
    Später erfuhren wir, dass man die Kranken und die Alten tatsächlich aus den Krankenhäusern geholt hatte. Auch die psychisch kranken Juden in den geschlossenen Abteilungen wurden mitgenommen. Diese armen Geschöpfe wurden zu den Menschen gesteckt, die man, wie uns, in ihren Verstecken aufgespürt hatte oder deren Aufenthaltsbewilligungen abgelaufen waren. Es war einer der letzten Transporte.
    Schockiert saß ich mit meiner Familie neben den anderen und starrte trübsinnig hinüber zu den Krankenhauspatienten. Unser waghalsiger Versuch, dem Schicksal zu entkommen, ist gescheitert, dachte ich.
    Uns blieb nichts anderes übrig als zu warten. Wir sprachen kein Wort miteinander. Unsere Köpfe waren leer. Ich wollte nur schlafen und alles um mich herum vergessen.
    Dann hörte ich rechts von mir ein leises Gemurmel. Ich drehte den Kopf und sah auf einer Tragbahre ein schönes Mädchen von etwa achtzehn Jahren. Sie starrte ausdruckslos in den Himmel. Ihre Mutter saß neben ihr auf der Erde und hielt ihre Hand. Plötzlich setzte sich das Mädchen auf, schaukelte langsam vor und zurück und murmelte auf Ungarisch: »Legy boldog.« (»Sei glücklich.«) Sie wiederholte die Worte immer wieder, manchmal legte sie sich hin, dann setzte sie sich wieder auf.
    Ihre Mutter strich ihr zärtlich über das Haar und die Stirn und befeuchtete ihr ab und an die Lippen. Nach ein paar Minuten hörte das Mädchen mit dem Schaukeln auf, legte sich ruhig hin und starrte ins Leere. Dann wiederholte sich das Ganze, wie ein rituelles Gebet. Ich beobachtete sie wie hypnotisiert und wartete, dass sie die Worte wiederholte. Ich konnte meine Augen nicht von ihrem schönen, aber beängstigenden Gesicht abwenden. Neben mir wurde geflüstert, dass das Mädchen den Verstand verloren habe, weil es den Schmerz nicht habe ertragen können, von ihren Schwestern und ihren Freundinnen getrennt zu werden, die schon vor längerer Zeit deportiert worden waren.
    Ich bekam keine Luft, mir wurde übel. Mein Magen krampfte sich zusammen, und ein stechender Schmerz durchbohrte meinen Unterleib. Der Schmerz kam in Wellen. Zuerst stöhnte ich leise, aber als der Schmerz stärker wurde, begann ich laut zu jammern und zu stöhnen, ungeniert, als existierten all die An-standsregeln nicht mehr, die man mir beigebracht hatte.
    Mutter saß wie gelähmt neben mir und rang hilflos die Hände, wusste nicht, was sie tun sollte. Dann kam eine Bekannte von uns zu mir und fragte, wo genau ich Schmerzen hatte. Ich deutete schluchzend auf meinen Bauch, und sie sagte, ohne auch nur einen Moment zu zögern: »Aliska, leg deine Hand auf deine rechte Seite und weine lauter, so laut du nur kannst.« Dann sprach sie eine Wache an: »Sieh dir dieses arme Mädchen an. Es krümmt sich vor

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