Weine ruhig
Schmerzen. Das muss ihr Blinddarm sein. In diesem Zustand könnt ihr sie nicht auf den Transport schicken! Sie muss sofort zum Arzt.«
Mein Vater griff das Stichwort auf und bat die Wachen, mich ins nahe Krankenhaus bringen zu dürfen. Die Wachen flüsterten miteinander und gaben dann ihre Einwilligung.
»Nimm das Mädchen und lauf zu einem Arzt. Aber seht zu, dass ihr vor Abgang des Transports zurück seid.«
Vater sprang auf und hob mich hoch. Ich weinte vor Schmerzen weiter, das Tor ging auf, und Vater, der mich auf seinen Armen trug, rannte zum Krankenhaus.
Wieder waren wir draußen und frei! Aus den Augenwinkeln sah ich, dass uns alle beobachteten. Und dann trafen wir, wie durch Zauberhand, meinen Onkel Menachem, der mit uns gefangen genommen worden war und der nun wie ein ganz gewöhnlicher Mensch die Straße entlangspazierte und so tat, als fühlte er sich völlig sicher. Später erfuhren wir, dass er durch einen Durchschlupf aus dem Hof geflohen war. Er gab uns mittels Gesten zu verstehen, dass wir ihn nicht ansprechen und so tun sollten, als würden wir uns nicht kennen.
Ich spürte, dass wir gerettet waren. Ich wollte schreien vor Glück, aber ich wusste noch nicht, wie es weitergehen würde. Vater trug mich wie ein zerbrechliches Gut auf seinen ausgestreckten Armen. Bald atmete er schwer und lief langsamer. Am Krankenhaus setzte Vater mich vorsichtig ab. Dann geschah etwas Seltsames: Der Schmerz verschwand, und ich stand da, mit beiden Füßen fest auf der Erde, lächelte und sagte: »Vater, es tut nicht mehr weh. Können wir jetzt zurück zu Mutter gehen?«
Zu meiner Überraschung sah ich eine Mischung aus Furcht und Flehen in Vaters Augen. »Mein kleines Mädchen«, flüsterte mein Vater. »Bitte, steh nicht so aufrecht da. Krümme dich weiter und tu so, als hättest du Schmerzen, und weine ruhig - sonst sind wir verloren! Sonst werden sie uns sofort in den Hof zurückschicken, und wir werden noch heute deportiert.«
»Aber, Vater, was ist mit Mutter und den Mädchen?«, fragte ich.
»Alles wird gut«, sagte er nur, »hör einfach nicht auf zu jammern und zu klagen.«
Und mein Vater hob mich wieder hoch und ging mit mir zum Hauptgebäude des Krankenhausgeländes.
Ich kam in das Untersuchungszimmer. Wieder überfiel mich die Angst, die Schmerzen kamen zurück, wenn auch nicht so heftig wie vorher. Wir wurden von einem jüdischen Arzt empfangen, den Vater kannte, worüber er offenbar sehr erleichtert war.
Mein Vater erzählte, was passiert war, der Arzt hörte zu, dann musste ich mich hinlegen, und er fing an, meinen Bauch zu untersuchen, tastete ihn gründlich ab. Als er fragte, wo es wehtue, sagte ich: »Überall«, denn die Wahrheit war: Es tat nirgendwo mehr weh. Plötzlich brach der Arzt die Untersuchung ab, sah meinem Vater in die Augen und sagte: »Das Mädchen ist körperlich gesund. Die Schmerzen rührten möglicherweise von ihrer Angst her. Ich riskiere meine Freiheit, wenn ich sie ohne triftigen Grund einweise. Aber ich werde sie an den Direktor der Abteilung überweisen, Dr. Bullock. Er ist ein tschechischer Arzt und kein schlechter Mensch, und zu eurem Glück ist er sehr habgierig. Wenn Sie ihn >schmieren< können, willigt er vielleicht ein, sie im Krankenhaus zu behalten, bis der Transport abgegangen ist.«
Vater schüttelte dem Arzt dankbar die Hand, wirkte aber keineswegs glücklich. Seine Augen verrieten seine Sorge um Mutter und meine Schwestern. Ich fragte ihn wieder ohne Umschweife: »Und was ist mit Mutter und den Mädchen?«
Er versuchte mich zu beruhigen und sagte: »Schsch... schsch... Alles wird gut, kleines Mädchen. Wenn du im Krankenhaus liegst, werde ich eine Bewilligung für ihre Freilassung bekommen.«
Während wir uns unterhielten, kam eine Krankenschwester, eine Nonne, herein und legte mich auf eine Trage. Ich wurde in ein anderes Zimmer gebracht, in dem fünf Frauen unterschiedlichen Alters lagen. Sie sahen mich neugierig an, und ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Sollte ich weinen oder still sein? Vater wandte sich zum Gehen und sagte: »Bleib ruhig liegen, ich bin gleich wieder da.«
Ich fühlte mich schrecklich allein und hatte Angst, dass Vater nicht zurückkommen und ich ihn nie wiedersehen würde. Aber kaum zehn Minuten später kam er mit Mutter und den Mädchen zurück. Ich traute meinen Augen nicht. Ungläubig richtete ich mich auf den Ellenbogen auf. Mutter erzählte, dass sie, kaum dass wir weg waren, hysterisch zu weinen angefangen
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