Weine ruhig
vierzehnjährigen Sohn. Jeden Tag, wenn wir Mädchen auf dem Balkon unserer Wohnung spielten, ging auch der Junge auf seinen Balkon und bombardierte mich mit Fragen: Wo kommst du her? Warum wohnst du nicht bei deinen Eltern? Wie lange bleibst du hier? Wir freundeten uns an, und manchmal besuchte er uns. Nach einiger Zeit lud er mich ein, mit ihm zusammen die prächtige Synagoge in der Dohänystraße zu besuchen, wo er im Kinderchor sang, meistens an Schabbat und an Feiertagen. Er hatte eine schöne helle Stimme, und er spielte ausgezeichnet Akkordeon.
Am darauffolgenden Schabbat begleitete ich ihn. Die Schönheit und die Größe der Synagoge faszinierten mich. Auch die Andacht gefiel mir, und die Lieder des Chors, der von einer Orgel begleitet wurde, machten mich froh. Es war das erste Mal in meinem Leben, das ich so etwas erlebte. Vorher hätte ich mir noch nicht einmal vorstellen können, dass in einer Synagoge Orgel gespielt würde. Aber mein neuer Freund erklärte mir, dass dies im reformierten Judentum üblich sei - es war auch das erste Mal, dass ich von dieser Strömung im Judentum hörte.
Der Junge schien mich sehr zu mögen. Fast täglich schickte er mir kleine Zettel, die er an einer Strippe befestigte und von seinem Balkon auf unseren hinunterließ. Die kleinen Mädchen - meine Schwester und meine Cousinen - schnappten sich die Zettel und gaben sie mir erst, wenn ich ihnen versprochen hatte, sie laut vorzulesen - sie konnten nicht lesen. Ich war geschmeichelt, dass mir jemand den Hof machte. In den Stunden, die ich mit ihm verbrachte, vergaß ich die Sehnsucht nach meinen Eltern. Ich war stolz darauf, dass der Nachbarjunge mich gern hatte. Wir lasen zusammen Bücher und spazierten durch die Straßen unseres Viertels. Nach dem Krieg blieben wir in Verbindung, bis ich nach Israel ging, und als er und seine Eltern ebenfalls nach Israel auswanderten, erneuerten wir unsere Freundschaft, und er spielte auf meiner Hochzeit Akkordeon.
Die Deutschen erlitten an der Ostfront eine Niederlage nach der anderen, aber das hielt sie nicht davon ab, die Juden zu deportieren und zu ermorden.
Ende März 1944 gab es große Aufregung in unserem Haus. Das Gerücht verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Die Deutschen hätten Budapest besetzt und marschierten durch die Straßen. Wir stürzten ans Fenster, um die Parade zu sehen, die auch durch unsere Straße führte, und wir sahen die Deutschen in Jeeps, auf Motorrädern und in gepanzerten Fahrzeugen vorbeifahren. Die Infanteriesoldaten marschierten in breiten Reihen vorbei und demonstrierten Macht und Stärke, trotz der Gerüchte, denen zufolge ihre Niederlage bevorstehe.
Als ich diese Militärparade sah, wusste ich, dass die alte Furcht zurückkehren würde. Eine neue bedrohliche Phase begann, und wer konnte voraussagen, wann und wie sie endete? Was planten die Deutschen in Ungarn? Würden sie die Juden zusammentreiben und sie dann in den Osten deportieren? Oder würden die Juden von ihren ungarischen Mitbürgern geschützt werden? Die Antworten auf diese Fragen ließen nicht lange auf sich warten.
Rückkehr nach Hause
Einen Monat später, im April 1944, war ich immer noch in Budapest. Die Flugzeuge der Alliierten bombardierten die Stadt weiterhin unablässig Tag und Nacht. Die Angriffe richteten sich zwar gegen bestimmte Ziele, zerstörten aber auch weite Flächen im Umkreis dieser Ziele. Der Gang in den Keller wurde zur Routine. Das Heulen der Sirenen trieb alle unter die Erde, und dieselbe Sirene verkündete einige Zeit später das Ende des Angriffs.
Wenn wir nach einem Luftangriff aus dem Keller kamen, sah unsere Umgebung anders aus als zuvor. Häuser waren zerstört, und Möbel und andere Einrichtungsgegenstände quollen aus dem Schutt hervor wie die offen liegenden Gedärme eines toten Körpers. Nun heulten andere Sirenen -Krankenwagen brachten die Verletzten in die Krankenhäuser. Tote wurden aus den Trümmern geborgen, Tierkadaver, mit zerschmetterten Gliedern, lagen überall herum. Die Luft roch versengt, und über allem hing der Gestank des Todes.
Trotz der Gefahr und der Angst, bei den Bombenangriffen verletzt zu werden, hofften wir, dass sie weitergingen, weil wir glaubten, dass sie die Kapitulation der Deutschen beschleunigen würden. Doch die Deutschen und ihre Handlanger erließen neue Dekrete gegen die Juden. So wurde Juden zum Beispiel untersagt, Nichtjuden bei sich zu beschäftigen. Die Haushälterin meiner Tante, die bei uns wohnte, musste uns daher
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