Weine ruhig
die wir sahen, eilten zur Arbeit und hatten Angst, dass das Heulen der Sirenen sie auf der Straße überraschen würde, so wie es in letzter Zeit mehrmals täglich geschah. Wir sahen ziemlich viele deutsche Soldaten, die zu Fuß oder in Autos unterwegs waren. Ich war sehr traurig, und mich überkam ein beklemmendes Gefühl, das nicht nachlassen wollte.
Als wir in den Zug stiegen, kam mir die Situation allzu bekannt vor: Wir saßen allein, von unserem Begleiter getrennt, taten so, als wäre es unser gutes Recht, hier zu sitzen - so wie bei unserem ersten, fehlgeschlagenen Fluchtversuch. Der Unterschied zu den beiden vorangegangenen Fahrten aber war, dass wir nicht befürchteten, man würde uns fassen. Unzählige Menschen verließen die Hauptstadt, um sich vor den Bombardements in Sicherheit zu bringen. Viele Nichtjuden fuhren zu Verwandten aufs Land oder schickten zumindest ihre Kinder dorthin. Und da man annahm, dass auch wir nur den Bomben entkommen wollten, beachtete uns niemand. Wir machten die lange Reise in einem überfüllten Zug und stiegen am letzten Halt vor der Grenze aus.
Der Mann sagte, dass wir uns sofort auf den Weg zur Grenze machen müssten, und ich fragte ihn, warum wir nicht warteten, bis es dunkel würde. Aber er beruhigte mich und erklärte, dass die Deutschen alle verfügbaren Truppen, auch die Reservekräfte, an die Front geschickt hätten, so dass sie nicht genug Leute hätten, um die Grenzen zu bewachen. Über die Grenze zu kommen sei daher kein Problem. Er hatte
Recht. An der Stelle, an der wir uns befanden, verlief die Grenze durch ein freies Feld, das wir überquerten, ohne jemanden zu Gesicht zu bekommen und ohne aufgehalten zu werden.
Der nächste Bahnhof, den wir erreichten, befand sich in der Slowakei. Ich war aufgeregt: Bald würde ich Mutter und Vater wiedersehen, nach fast einem halben Jahr. Meine kleine Schwester, die jetzt acht war, und unser Cousin blieben dicht bei mir. Nach einer kurzen Fahrt erreichten wir am frühen Nachmittag die Stadt Nitra in der Westslowakei, in der meine Eltern Unterschlupf gefunden hatten, als die verbliebenen Juden der Ostslowakei evakuiert wurden. Im Vergleich zu Budapest, einer Stadt mit schönen breiten Boulevards und prächtigen hohen Häusern, wirkte Nitra heruntergekommen und trostlos - wie eine langweilige Provinzstadt eben. Die Häuser waren höher als in meiner Heimatstadt, doch insgesamt sah alles sehr gewöhnlich aus.
Der Mann führte uns in eine Nebenstraße, und bald erreichten wir ein einstöckiges Haus mit mehreren Wohnungen. Wir gingen durch den Hauseingang in einen quadratischen Hof. Der Mann klopfte an eine Wohnungstür. Jemand öffnete sie langsam, zögernd - und da stand Vater! Er schrie vor Freude laut auf, streckte die Arme aus, umarmte uns alle und rief nach Mutter.
Ich spürte Freude und Entsetzen zugleich. Vater sah sehr schäbig aus. Er war unrasiert und trug ein seltsames Barett, und seine Hose wurde von Hosenträgern gehalten. So hatte ich ihn nicht in Erinnerung, und sofort spürte ich Mitleid mit ihm. Wir gingen schnell hinein, und erst dann sah ich Mutter und Rachel. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Mutter saß auf einem Stuhl, starrte ins Leere, als verstünde sie nicht, was um sie herum vorging. In meiner Erinnerung war sie kräftig gebaut und trug stets ein Kopftuch, doch jetzt sah ich eine extrem gealterte Frau - sie war damals erst vierundvierzig Jahre alt.
Ihr Kopf war unbedeckt, das Haar ungekämmt, sie war dünn und blass und trug Kleider, die ihr viel zu groß waren.
Neben ihr stand Rachel, die ich kaum wiedererkannte. Sie war in den vergangenen sechs Monaten sehr gewachsen, war dünn und wirkte verängstigt. Mutter stand nicht einmal auf, als wir hereinkamen. Später erfuhr ich, dass sie wegen ihrer Depressionen Tabletten nahm, die ihre Wahrnehmung trübten.
Ich sah mich in der Wohnung um, in der meine Eltern und meine Schwester lebten. Sie bestand aus einem einzigen Raum, kaum neun Quadratmeter groß, und hatte keine Waschgelegenheit. Die Einrichtung bestand aus zwei Betten, einem kleinen wackligen Tisch und zwei Stühlen. In einer Ecke standen zwei Kisten, in denen die wenigen Kleidungsstücke und anderen Dinge verstaut waren, die sie von zu Hause mitgebracht hatten. Die Wohnung war für uns alle viel zu klein, und die Beengtheit machte mich unruhig. Verzweiflung überwältigte mich beim Anblick dieser elenden Behausung meiner Familie, und ich begann laut zu schluchzen. Ich weinte um meine
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