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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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Eltern, ich beweinte mich selbst und mein Schicksal, weil ich ein schönes, geordnetes Zuhause verlassen hatte und nun in dieser scheußlichen Armut leben musste. Ich weinte lange und vergaß alle um mich herum.
    Schnell bekam der Mann, der uns gebracht hatte, sein Geld und verschwand. Nach und nach beruhigte ich mich. Wir setzten uns hin, um zu reden. Jetzt weinte Mutter leise vor sich hin. Vielleicht hatte unsere Rückkehr sie dazu gebracht, die Realität ein wenig klarer zu sehen. Ihre Mädchen waren nun alle wieder wohlbehalten bei ihr. Wenige Tage später erfuhr ich, dass Mutter in der ganzen Zeit unserer Abwesenheit nie aufgehört hatte, sich Vorwürfe zu machen, weil sie der Trennung zugestimmt hatte, und dass sie dadurch ihren Lebenswillen verloren hatte.
    Weil wir zu sechst keinen Platz in der engen Wohnung hatten, schickte Vater unseren Cousin Simon in ein Waisenheim der jüdischen Gemeinde.
    In Nitra blieben wir von Ende Mai bis zum 7. September 1944. Mutter und Vater arbeiteten manchmal in ihren Berufen, und wenn das nicht möglich war, suchten sie sich irgendeine andere Arbeit. Fast täglich hörten wir, dass die Deutschen sich an allen Fronten zurückzögen und dass der Tag der Rettung nahe sei. Gelegentlich gab es sogar Bombenangriffe, und wir mussten in den Keller flüchten. Jeden Tag warteten wir auf das Wunder, das uns von unserem Leid erlösen würde, aber es kam nicht.
    In Nitra gingen wir nicht zur Schule. Im ganzen Land kämpften die Partisanen gegen die faschistische Regierung. Einige Juden schlossen sich den Partisanen an, die von den Alliierten unterstützt wurden. Alle hofften und wollten glauben, dass der Krieg bald vorbei und wir gerettet wären. Aber dann kam jener schreckliche Tag, der 7. September, und alle unsere Hoffnungen wurden zerstört. Die neue Bedrohung unseres Lebens kam wie ein plötzlicher Sturm, ohne Warnung. Und diesmal gab es keine Schlupflöcher - keine vorgetäuschte oder echte Konvertierung, kein Geld, keinen Status, keinen unentbehrlichen Beruf, nicht einmal hilfreiche Beziehungen zu wichtigen Personen. Diesmal waren alle Juden gleich: Alle waren zum gleichen bitteren Ende verdammt ...
    Der letzte Transport
    7. September 1944, morgens. Vater war in die Synagoge gegangen, so wie jeden Tag. Als er zurückkam, bemerkte ich, dass er anders aussah als sonst. Sein Hut saß schief, er wirkte nervös und besorgt. Er flüsterte meiner Mutter etwas zu, und an ihrer Reaktion konnte ich erkennen, dass er schlechte Nachrichten brachte. Unsicher ging Vater in die kleine Kochecke und goss sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne ein, die Mutter für ihn bereitgestellt hatte. Er wusch sich die Hände und schnitt sich eine Scheibe Brot ab. Dann setzte er sich auf einen der wackligen Stühle, segnete das Brot, biss ein Stück ab und schlürfte laut seinen Kaffee, wobei er die ganze Zeit irgendwohin sah, als traute er sich nicht, Mutters Blick zu begegnen.
    Mutter starrte ihn eine Weile ungläubig an, dann schrie sie: »Wir werden sterben, und du sitzt hier und trinkst Kaffee, als sei nichts passiert?!«
    Vater sagte nichts und trank weiter seinen Kaffee. Ich bekam eine Gänsehaut angesichts seiner Gelassenheit und fragte ihn, was geschehen sei. Denn obwohl ich erst vierzehn war, behandelten meine Eltern mich wie eine Erwachsene, und ich hatte gewiss bewiesen, dass man mir trauen konnte. Vater sagte nur, er habe in der Synagoge gehört, dass die Deutschen, obwohl sie an allen Fronten geschlagen würden, nicht die Absicht hätten, die Juden fortan zu verschonen. Sie würden an ihrem Plan, die Juden in dem von ihnen besetzten Teil Europas zu vernichten, festhalten. In der Slowakei würden ihnen dabei die einheimischen Helfer zur Hand gehen. Sie wollten die restlichen Juden nun schnellstmöglich deportieren. Alle Juden hätten ihre Sachen zu packen und sich zum Transport zu melden. Das würde das Ende der kleinen Gemeinde sein, die bis jetzt die vielen Wendungen des Schicksals überlebt hatte. Die überlebenden slowakischen Juden würden in die Lager im Osten geschickt werden. Viel später erfuhr ich, dass die Repressalien gegen die Juden vor allem wegen des wachsenden Widerstands der Partisanen gegen die deutsche Invasion der Slowakei am 29. August 1944 verstärkt wurden.
    Vater, mit seiner Erfindungsgabe und seinem unerschütterlichen Glauben, weigerte sich jedoch abermals, klein beizugeben. Er würde sich nicht zur Schlachtbank führen lassen; es sei seine Pflicht, seine Familie zu

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