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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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hätte eine blühende Fantasie und dass ich mir das meiste von dem, was ich ihnen erzählte, ausgedacht hätte. Schließlich konnte ihrer Meinung nach nichts von alldem wirklich passiert sein, jedenfalls nicht im aufgeklärten Europa.
    Auch in Ungarn stand das Menetekel an der Wand, aber die Menschen ignorierten es. Solange es keine Deportationen gab, fühlten die ungarischen Juden sich relativ sicher.
    Unsere Freude darüber, eine neue Heimat gefunden zu haben, war nur von kurzer Dauer. Zunächst würden wir das Haus verlassen müssen, erklärte mein Onkel, da es verboten sei, Flüchtlingskinder aufzunehmen. Sowohl diejenigen, die sich illegal im Land aufhielten, als auch jene, die ihnen Unterkunft gewährten, wurden, wenn man sie erwischte, streng bestraft. Unsere einzige Hoffnung war, in einem Flüchtlingslager für verfolgte Kinder aus Ländern wie der Slowakei, Polen und Jugoslawien unterzukommen. Ein solches Lager wurde als Waisenhaus bezeichnet, szaboles, und laut Gesetz konnten die dort untergebrachten »Waisenkinder« von ungarischen Bürgern adoptiert werden. Onkel Jenö plante, uns zu einem solchen Lager zu bringen. Dort sollten wir der Leitung erzählen, dass wir allein aus der Slowakei gekommen wären - mit Hilfe guter Menschen - und eine Bleibe suchten.
    Am nächsten Morgen packten wir unsere Sachen, und Tante Mariska gab uns Proviant für die Reise mit. Nach einer längeren Zugfahrt erreichten wir das Lager. Unser Onkel verabschiedete sich, und wir gingen auf das Tor zu, drei ängstliche Mädchen. Aber zu unserer Überraschung hielt uns niemand an und stellte irgendwelche Fragen, und man wies uns sofort drei Betten in einem kleinen Zimmer zu, zusammen mit vier Mädchen aus Serbien. Sie sahen uns zuerst miss-trauisch an, wurden aber schnell freundlich und liebenswürdig. Mittels Zeichensprache gaben sie uns zu verstehen, dass sie glücklich seien, uns bei sich zu haben. Sie selbst hatten sich erst im Lager kennen gelernt und waren seitdem zusammengeblieben. Ihr Problem war, dass sie kein Ungarisch konnten. Ich verstand ein bisschen Serbisch - Slowakisch und Serbisch sind slawische Sprachen, viele Wörter sind gleich oder ähnlich und ich übersetzte für sie, bis sie die Wörter und Sätze gelernt hatten, die sie im Alltag brauchten.
    Bald freundete ich mich mit einer von ihnen an. Sie war in meinem Alter und beeindruckte mich mit ihrem schönen Gesang, denn auch ich sang gern. Sie sang und summte vor sich hin, während sie ins Leere starrte, als wollte sie eine geheime Botschaft an diejenigen senden, die sie zurückgelassen hatte. Wenn sie sang, kamen auch andere Kinder, um ihr zuzuhören. Sie hatte eine klare hohe Stimme, wie ein Vogel, und ihr Gesang erfüllte mich mit einer unerklärlichen Sehnsucht und Traurigkeit. Sie brachte mir serbische Lieder bei, die wir dann gemeinsam sangen.
    Wir blieben ungefähr sechs Wochen in diesem Lager, verbrachten die Zeit vor allem mit Essen und mit Gemeinschaftsspielen. Jeden Tag warteten wir auf den Besuch unserer Verwandten. Wir wanderten ziellos im Hof auf und ab und spähten immer wieder durch den Zaun, nur um enttäuscht auf unser Zimmer zurückzukehren, wenn sie wieder nicht gekommen waren. Wenn sie uns besuchten, so hofften wir, würden wir bald gehen dürfen. Jeden Tag beobachteten wir neidisch, dass glückliche Kinder mit ihren Adoptiveltern das Lager verließen. Wir lernten auch Kinder kennen, die man bei dem Versuch, heimlich die Grenze nach Ungarn zu überqueren, erwischt hatte, und solche, die freiwillig ins Lager gekommen waren.
    Eines Tages kamen Onkel Jenö und Tante Mariska dann doch und brachten eine wunderbare Überraschung mit: einen Brief von Mutter und Vater. Das war ein großer Tag für uns, denn der Briefverkehr zwischen der Slowakei und Ungarn funktionierte nur sporadisch. Wir ließen zärtlich und sehnsüchtig die Finger über den Brief gleiten und küssten die Seiten, als könnten wir dadurch mit unseren Eltern in Verbindung treten.
    Mutter und Vater schrieben, wie glücklich sie seien, dass alles gut gegangen sei und man ihnen diese große Last von der Seele genommen habe und dass sie Gott dafür dankten, dass wir in Sicherheit waren. Um unseren Verwandten die Situation nicht zu erschweren, schlugen sie vor, dass wir uns trennten. Rachel, die Zweitälteste, sollte zu unseren Großeltern aufs Land gehen. Rachel wollte davon nichts wissen, aber Tante Mariska versicherte ihr, dass sie den Ort mögen und man sie nach Strich und Faden

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