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Weine ruhig

Weine ruhig

Titel: Weine ruhig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aliza Barak-Ressler
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verwöhnen würde und dass unsere Großeltern sehr glücklich wären, wenn sie zu ihnen käme und bei ihnen lebte. Aber dann wurde Rachel plötzlich krank, als wollte das Schicksal ihren schmerzlichen Abschied hinauszögern. Die Ärzte sagten, sie müsse sich einer Operation unterziehen, ihr müssten die Mandeln herausgenommen werden. Rachel weinte sehr viel, nicht nur wegen der Schmerzen, sondern vor allem, weil sie die Operation allein durchstehen sollte, weit weg von Mutter und Vater, in einem fremden Land. Sie weigerte sich auch weiterhin, zu unseren Großeltern zu ziehen, aber da die Erwachsenen es untereinander so ausgemacht hatten, willigte sie schließlich ein.
    Einige Wochen später wurde endlich die Adoption genehmigt, und wir kehrten in die schöne Wohnung unserer Tante und unseres Onkels zurück. Onkel Jenö fuhr mit Rachel - die sich von der Operation erholt hatte - in das Dorf, in dem unsere Großeltern lebten und meine unverheiratete Tante Ilonka sie erwartete. Miriam blieb bei mir in Budapest. Nach ein paar Tagen fühlten wir uns wie zu Hause. Miriam spielte mit ihren Cousinen, die etwas jünger waren als sie, und ich, die Älteste, passte auf sie auf.
    Nach einiger Zeit fiel meiner Tante auf, dass ich wunde
Budapest 1943: Rachel (unten Mitte), mein Cousin Simon, meine beiden Cousinen und ich (oben links)
    Stellen am Hals hatte und mich ständig am Kopf kratzte. Als ein anderer Verwandter, ein Arzt, zu Besuch kam, bat sie ihn, sich die Sache mal anzuschauen. Es dauerte nicht lange, dann sagte er: »Das Mädchen hat Läuse, daher die wunden Stellen. Sie hat möglicherweise auch die anderen Mädchen angesteckt.«
    Tante Mariska untersuchte uns alle sorgfältig und war entsetzt: Auch Miriam, mein Cousin und meine beiden Cousinen hatten Läuse.
    Damals benutzte man Petroleum oder Kohlsaft, um diese Insekten zu entfernen. Tante Mariska schmierte uns Petroleum ins Haar, umwickelte unsere Köpfe mit Handtüchern und entfernte dann einige Zeit später die Läuse mit einem speziellen Kamm. Wir mussten uns auf ein Stück weißes Papier stellen, damit man die herunterfallenden Läuse sehen konnte. Ich schämte mich. Ich wusste, dass wir uns die Läuse in dem Flüchtlingslager eingefangen hatten, aber mein Onkel behauptete immer wieder, wir hätten die Läuse von zu Hause mitgebracht. Er sagte sogar, dass Mutter nicht richtig für uns gesorgt und nicht ausreichend auf Sauberkeit geachtet hätte. Es tat mir sehr weh, das anhören zu müssen. Ich fühlte mich in Mutters Namen beleidigt. Mutter hatte es mit der Hygiene stets übertrieben. Sie wollte zum Beispiel nicht, dass ich mir Zöpfe wachsen ließ, die ich so gern gehabt hätte, und wir hatten daher alle kurze Haare, damit sie sie besser pflegen konnte.
    Jedenfalls wurden wir an den nächsten Abenden von unserer Tante immer demselben Ritual unterzogen. Wir bekamen die Haare eingeschmiert, und dann wurden sie ausgekämmt, aber es dauerte lange, bis wir die Läuse endgültig los waren.
    In der Zwischenzeit ging der Krieg weiter. Die meisten Lebensmittel waren rationiert. Der Schwarzmarkt blühte, und das Geld wurde immer weniger wert. Tante Mariska und Onkel Jenö fiel es schwer, für fünf Kinder zu sorgen, und so beschlossen sie, dass Miriam, die jetzt sieben Jahre alt war, zu Onkel Herman ziehen sollte, einem Junggesellen. Er wohnte in einer kleinen Stadt, etwas sechzig Kilometer von Budapest entfernt, wo er als Lehrer und Kantor arbeitete. Miriam hing sehr an mir - ich war wie eine Mutter für sie -, und sie wollte nicht weg, aber Onkel Jenö versicherte ihr, dass es ihr dort gefallen würde.
    »Arme Miriam!« Omer unterbrach mich mitten im Satz. »Wie konnten deine Tante und dein Onkel so gefühllos sein, ein kleines Kind zu einem Junggesellen zu schicken, auch wenn es ihnen Leid tat und sie keine andere Wahl hatten! Was für ein Leben würde sie denn bei ihm haben? Und wenn sie eine von euch wegschicken mussten, warum nicht dich, die Älteste?«
    »Ich glaube, dafür gab es einige gute Gründe«, sagte ich. »Erstens: Als dreizehnjähriges Mädchen konnte ich viel im Haushalt helfen und auf die kleinen Mädchen aufpassen, wenn meine Tante und mein Onkel nicht da waren. Dagegen betrachteten sie Miriam als Belastung. Außerdem kam es nicht in Frage, ein junges Mädchen in meinem Alter allein zu einem unverheirateten Mann zu schicken. Ich glaube, das war der Hauptgrund für die Entscheidung meiner Tante. Deshalb fiel die Wahl auf meine kleine

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